Auf einen Blick
Die TV-Debatte zwischen Donald Trump (78) und Kamala Harris (59) heute Nacht (3 Uhr Schweizer Zeit) könnte die US-Wahl entscheiden. Leistet sich einer der beiden einen groben Schnitzer oder legt einer der beiden einen absolut brillanten Auftritt hin, wäre das Rennen wohl gelaufen.
Die Ausgangslage ist derzeit aber derart knapp, dass das Unwahrscheinliche im Land der unbegrenzten Möglichkeiten tatsächlich eintreten könnte: ein Unentschieden bei den Präsidentschaftswahlen. Das Horrorszenario ist wahrscheinlicher, als du denkst – und würde das mächtigste Land der Welt zünftig aus der Bahn werfen.
Zur Erinnerung: In Amerika spielt es letztlich keine Rolle, wie viele Menschen für den einen oder den anderen Kandidaten ihre Stimme einwerfen. Hillary Clinton (76), beispielsweise, holte 2016 65,8 Millionen Stimmen, Trump nur 62,9 Millionen. Trotzdem hat Trump gewonnen. Der Grund: das Wahlmänner-System. Kurz gesagt: Wer in einem Bundesstaat gewinnt, holt automatisch alle Wahlmänner dieses Staates. Je mehr Einwohner ein Staat hat, umso mehr Wahlmänner gibt es. 538 sind es insgesamt. Wer 270 der sogenannten Elektoren holt, wird Präsident.
Drei Wege zum Horror-Szenario
Die Krux daran: Es könnte auch auf ein Unentschieden hinauslaufen. Dann nämlich, wenn beide Seiten je 269 Elektoren gewännen. Ein Schreckensszenario – aber im aktuellen Wahlkampf mit einer Wahrscheinlichkeit von sieben Prozent alles andere als unmöglich.
Die Plattform «270 to win» rechnet es vor: Fokussiert man auf die wichtigsten Swing States, dann gibt es 45 mögliche Wahlausgänge. 20 Mal gewinnen die Demokraten, 21 Mal die Republikaner, 3 Mal keiner der beiden. Dann zum Beispiel, wenn Kamala Harris in Arizona, Georgia und North Carolina gewinnt, Trump sich aber Michigan, Wisconsin, Pennsylvania und Nevada holt.
Vorgekommen ist das in der amerikanischen Geschichte noch nie. 1824 – also vor genau 200 Jahren, als Washington noch ein verruchtes Städtchen mit viel wiehernden Pferden, aber wenig fertig gebauten Amtshäusern war – holte keiner der damals vier Kandidaten eine Mehrheit im Wahlmännersystem. Das Repräsentantenhaus (die grosse Kammer, der Nationalrat der USA) musste den Entscheid fällen.
So regelt es der 12. Zusatz in der amerikanischen Verfassung bis heute. Konkret besagt er: Wenn das Wahlmännersystem keinen Gewinner produziert, kommts zur Abstimmung im Repräsentantenhaus. Die Delegation eines jeden Bundesstaates erhält je eine Stimme (also total 50 Stimmen). Die einfache Mehrheit entscheidet, sofern zwei Drittel der Staatsdelegationen bei der Abstimmung mitmachen.
Käme es soweit, wären das gute Neuigkeiten für Trump. 26 der 50 Bundesstaaten haben derzeit eine republikanisch dominierte Delegation, nur 22 eine demokratische. Zwei sind exakt ausgeglichen. Trump wäre der Sieger.
Wie Harris dann doch noch siegen könnte
Harris könnte höchstens darauf spekulieren, dass es im Repräsentantenhaus zu Chaos kommt und nicht die nötigen zwei Drittel aller Delegationen mitmachen. Schaffen es die Repräsentanten nicht, einen Präsidenten zu wählen, wird automatisch der amtierende Vizepräsident (also Kamala Harris) nächster US-Präsident. Der neue Vizepräsident selbst wird in einer einfachen Mehrheitsabstimmung im Senat (der kleinen Kammer, also dem Ständerat) gewählt.
Kompliziert, das alles. Kein Wunder, dass sich prominente Stimmen wie etwa Barack Obama, Bernie Sanders oder Hillary Clinton für die Abschaffung des Wahlmännersystems zugunsten einer einfachen Volkswahl starkmachen. Mindestens bei diesen Wahlen aber bleibt es kompliziert.