Polen steht nahe vor einer möglichen Wende. Am Sonntag findet die wegen Corona verschobene Präsidentschaftswahl statt, bei welcher der seit 2015 amtierende, rechtsgerichtete Präsident Andrzej Duda (48) und die nationalkonservative Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS) abgewatscht werden könnten.
Bis vor kurzem galt Dudas Wiederwahl als sicher. Doch seit die Oppositionspartei Bürgerplattform (PO) ihre glücklose Kandidatin Malgorzata Kidawa-Blonska (63) abgesetzt hat und auf Warschaus Oberbürgermeister Rafal Trzaskowski (48) setzt, könnte es für Duda eng werden.
Innert kurzer Zeit sammelten Trzaskowskis Anhänger für dessen Nominierung 1'622'868 Unterschriften. Das sind 16-mal mehr als die 100'000 Namen, die nötig gewesen wären.
«Wir haben genug»
Während Duda vor allem bei Wählern mit einem katholisch geprägten Wertesystem punktet, findet Trzaskowski bei progressiven Städtern Unterstützung. Duda sagte kürzlich über Schwule, Lesben, Bisexuelle und Trans-Menschen: «Man versucht uns einzureden, dass das Menschen sind. Aber es ist einfach nur eine Ideologie.»
Trzaskowski erwidert auf solche Aussagen und Dudas Programm generell mit seinem Wahlkampfmotto: «Wir haben genug.»
Das Amt des Stadtpräsidenten von Polens Hauptstadt übt der verheiratete und zweifache Vater Trzaskowski seit 2018 aus. 2013 war er ein Jahr lang Minister für Verwaltung und Digitalisierung, später kurz Staatssekretär für europäische Angelegenheiten.
Kritik an der Schweiz
2009 bis 2013 war er Mitglied des Europäischen Parlaments, in dem er sich kritisch zur Schweizer Politik äusserte. So stellte er die Schweiz gleich in zwei Vorstössen an den Pranger.
Er empörte sich damals vor allem über die Ventilklausel bei der Ausdehnung der Personenfreizügigkeit auf Osteuropa. Trzaskowski: «Wie haben die Schweizer Behörden das Recht, unter 25 Mitgliedstaaten der EU nationale Differenzierungen vorzunehmen?» Er bezeichnete dies als «diskriminierend» und rief die EU-Kommission dazu auf, «Schritte gegen die von den Schweizer Behörden ergriffenen Massnahmen» in die Wege zu leiten.
Zudem forderte Trzaskowski von der EU «die Entwicklung von Binnenmarkt-Vorschriften, die geeigneter sind, den Wirtschaftsbeteiligten auf beiden Seiten ein transparentes und vorhersehbares Umfeld zu bieten». In seinem Votum vor dem Parlament sagte er, dass er sich «Sorgen um unsere Beziehung zur Schweiz» mache.
PiS oder nicht PiS
In den Augen vieler polnischen Wähler geht es am Sonntag allerdings weniger um die Persönlichkeit oder das Programm der Kandidaten. «Diese Wahl wird eine Volksabstimmung darüber, ob die Politik der PiS fortgesetzt werden kann oder nicht», sagt der polnische Politologe Antoni Dudek gegenüber der Nachrichtenagentur SDA. Die Partei, deren Kürzel für «Recht und Gerechtigkeit» steht, hat seit 2015 das Machtmonopol in Polen. Sie verfügt im Parlament über die absolute Mehrheit und kann ohne Koalitionspartner schalten und walten.
Auch Duda stammt aus den Reihen der PiS. Und selbst wenn der Präsident nach der Verfassung offiziell keiner Partei angehören darf: Duda betont gerne, dass er mit der PiS-Regierung an einem Strang zieht.
Präsident hat Vetorecht
Gelänge es Trzaskowski, Duda zu schlagen und in den Präsidentenpalast einzuziehen, könnte dies die Macht der PiS wesentlich beschneiden. Mit ihrer Regierungsmehrheit könne die Partei das Land in den kommenden Jahren dann lediglich noch verwalten, sagt Politologe Dudek. «Sie wird ohne die Zustimmung Trzaskowskis keine einzige wichtige Gesetzesänderung durchbringen – und die Zustimmung wird es nicht geben.»
Der Staatschef hat in Polen mehr Kompetenzen als etwa der Bundespräsident in Deutschland. Er steht zwar nicht der Exekutive vor wie in den USA oder Frankreich. Aber er hat das Recht, fast jede Gesetzesinitiative des Parlaments mit einem Veto zu stoppen.
Entscheidung in Stichwahl?
In der ersten Wahlrunde wird sich möglicherweise zugunsten von Duda auswirken, dass 40 Prozent der Menschen in Polen auf dem Land leben und 30 Prozent in grösseren Städten. In der Stichwahl aber, die auf den 12. Juli angesetzt ist, kommt es darauf an, welche Wahlempfehlung die übrigen der insgesamt elf Präsidentschaftskandidaten ihren Anhängern geben.
In einer politischen Landschaft, die in der Wahrnehmung vieler Polen längst in PiS und «Anti-PiS» gespalten ist, könnte dies Trzaskowski den Sieg bringen.