Wohnungen haben sich in der Corona-Krise einem unerwarteten Stresstest stellen müssen, und der Grossteil von ihnen ist nach Ansicht von Experten durchgefallen. Private Rückzugsorte und gemeinschaftliche Aussenräume sind in der häuslichen Isolation wichtiger geworden, und das dürfte auch in Zukunft so bleiben.
Die Wahrnehmung der eigenen vier Wände hat sich durch die Corona-Pandemie verändert. Die «ausgemergelten Grundrisse» der meisten bestehenden Wohnungen mit ihrer klassischen Aufteilung – kleine Kinderzimmer, grosses Elternschlafzimmer und Wohnzimmer mit Platz für Wohnwand – hätten die Flexibilität behindert, die in der Corona-Krise für Homeoffice oder Homeschooling nötig gewesen wäre, stellt Peter Schwehr fest.
Rückbesinnung auf alte Grundrisse
Der Leiter des Kompetenzzentrums Typologie & Planung in Architektur (CCTP) der Hochschule Luzern erklärt im Gespräch mit der Nachrichtenagentur Keystone-SDA, Corona biete die Chance auf eine Rückbesinnung auf nicht verhandelbare Qualitäten im Wohnungsbau.
Künftig brauche es Wohnungen, die flexibel nutzbar seien, die quasi als Hybrid, als Wohnraum und Büro, genutzt werden könnten. Die dafür notwendige Raumordnung mit hoher Nutzungsmöglichkeit biete beispielsweise ein quadratischer Grundriss mit hohen Räumen, wie er in der Gründerzeit (1870 bis 1914) üblich war.
Arbeitszimmer und Garten
«Die Immobilienwirtschaft hat allerdings die Zeichen der Zeit immer noch nicht erkannt. Sie hält an veralteten, aber nach wie vor renditetauglichen Wohnungstypologien fest, die keine Rücksicht auf veränderte Wohnformen und Lebensstile nimmt», kritisiert der stellvertretende Leiter des Instituts für Architektur.
Privilegiert war, wer während des Lockdowns Garten, Arbeitszimmer und schnelles Internet zur Verfügung hatte. Doppelt gestraft waren hingegen etwa Bewohnerinnen und Bewohner im sozialen Wohnungsbau.
Es braucht mehr Gemeinschaftsräume
Damit heute bestehende Wohnungen auch in Krisenzeiten alles Notwendige leisten können, braucht es laut Schwehr mehr Flächen im Aussenbereich der Wohnungen. Das bedeute auch Räume, die als Co-Working-Space oder Gästezimmer von einer überschaubaren Bewohnerschaft gemeinsam genutzt werden könnten.
Mehr Aussen- oder Zwischenräume sind für Schwehr aber kein Argument gegen verdichtetes Wohnen. Corona habe gerade auch gezeigt, dass es für die Nachbarschaftshilfe eine gewisse Dichte brauche. Die Nutzung von Zwischenräumen könne aber Dichtestress vermeiden und das Gefühl vermitteln, neben der Wohnung über mehr Raum zu verfügen.
Weg vom Dichtestress
«Verdichten ohne Rücksicht auf Qualität ist nicht zukunftsfähig. Gelungene Projekte berücksichtigen auch die Aussenräume und das Quartier als Ganzes», stellt auch Renate Amstutz, Direktorin des Schweizerischen Städteverbandes, fest. Wenn der Bewegungsradius eingeschränkt sei, werde es umso wichtiger, in der Nähe Möglichkeiten zum Erleben, Gestalten und Entdecken zu haben. Keine Lösung sei aber eine fortschreitende Zersiedelung.
Absurd findet Schwehr allerdings bereits geäusserte Forderungen, künftig Plätze «Social Distancing»-gerecht zu planen. Eine aussergewöhnliche Situation wie die Corona-Pandemie würde so, seiner Meinung nach, aus einem falsch verstandenen Sicherheitsbedürfnis heraus zur Norm gemacht.
Qualität des Nichtgebauten
Tatsächlich gehören inzwischen die im vergangenen Jahr aufgrund der Terrorbedrohung zum Schutz von Plätzen und Gebäuden installierten hässlichen Betonelemente und Poller vielerorts zum Stadtbild.
«Corona hat die Qualität des Nichtgebauten aufgezeigt und Diskussionen ausgelöst, die wichtig für einen allfälligen Städteumbau und eine Verbesserung der Aufenthaltsqualität draussen sind», sagt Schwehr. Verdichtete Strukturen benötigten nicht weniger, sondern mehr Zwischenraum, mehr Begegnungszonen und weniger Vorschriften für deren Nutzung.
Rückzugsorte und Begegnungsfläche
Schwehr propagiert anstelle eines grossen zentralen Ortes viele dezentrale kleinere und selbstverwaltete Orte. Das nehme Druck aus dem System, und die Menschen könnten sich besser verteilen und organisieren.
Auch Urs Heimberg, Leiter des Fachbereichs Architektur an der Berner Fachhochschule (BFH), erachtet gerade in Krisenzeiten ein ausgewogenes Verhältnis zwischen privaten Rückzugsorten, wie Balkonen, Gärten und Terrassen sowie öffentlichen Begegnungs- und Aneignungsflächen für wichtig.
Künftige Gestaltung öffentlicher Plätze
Während die privaten Räume durchaus individuell ausgestaltet werden könnten, sollten im öffentlichen Raum einseitige Nutzungsansprüche möglichst vermieden werden. Als Vorbild für die künftige Gestaltung im öffentlichen Raum sieht Heimberg nur sehr spärlich möblierte Plätze wie beispielsweise die zentrale Piazza del Campo in der italienischen Stadt Siena.
In der Stadt Zürich werden laut Angaben des Tiefbauamtes Parkanlagen bereits bisher multifunktional gestaltet, um Anpassungen aufgrund künftiger Bedürfnisse zu ermöglichen.
Freiraum wird immer wichtiger
Fachleute sind gefragt, damit coronatauglichere Wohnungen und Aussenräume auch tatsächlich realisiert werden. In der Ausbildung von Architektinnen und Architekten werde der Umgang mit Freiraum immer wichtiger, stellt Heimberg, der an der BFH Raumplanung und Städtebau unterrichtet, fest.
Im Dialog mit Landschaftsarchitekten sollten Architektinnen künftig einen Beitrag zum qualitätsvollen Umgang mit Aussenanlagen und Naherholungsgebieten leisten.
Die Bedeutung der Aussenräume sei bisher in der Architektur zum Teil vernachlässigt worden, sagt auch Schwehr, der vor allem in der Forschung tätig ist. Die Zeit sei reif, den bisherigen Planungsalltag und die Vorstellungen von Städtebau und Stadtentwicklung zu überprüfen. (SDA/voh)
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