Wirtschaftsexperte Werner Vontobel würdigt den verstorbenen ETH-Professoren
Hans Würgler hätte es besser gewusst

In der aktuellen Diskussion um die AHV-Reform fehlt der ökonomische Sachverstand, kritisiert Blick-Kolumnist Werner Vontobel. Professor Hans Würgler hatte ihn. Der ehemalige Leiter der ETH-Konjunkturforschungsstelle ist dieser Tage verstorben.
Publiziert: 29.07.2021 um 19:51 Uhr
Blick-Kolumnist Werner Vontobel fordert einen Neustart in der Debatte um die Altersvorsorge.
Foto: Paul Seewer
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Werner Vontobel

Im hohen Alter von 94 Jahren ist dieser Tage Professor Hans Würgler verstorben. Als Chef der Konjunkturforschungsstelle der ETH war er über Jahrzehnte der ökonomische Sachverstand der Schweiz. Und er war der erste und bisher einzige hochrangige Ökonom, der die volkswirtschaftliche Bedeutung unserer Vorsorgewerke erkannt hat.

Das kam so: In den 1960er Jahren gab es zwei Lager. Die einen wollten die betriebliche Vorsorge für obligatorisch erklären und damit das 3-Säulen-System etablieren. Die anderen – konkret die Linksparteien – forderten den Ausbau der AHV zu einer Volkspension.

FDP-Mann Würgler wollte die Volkspension

Der zuständige Bundesrat Hanspeter Tschudi wollte es genau wissen und setzte eine «Expertenkommission zur Behandlung der volkswirtschaftlichen Fragen der Sozialversicherung» ein. Natürlich unter der Leitung von Professor Hans Würgler.

Dieser stellt sich erst einmal die naheliegende Frage. Nämlich, ob unsere Volkswirtschaft die von der 2. Säule generierten Ersparnisse überhaupt brauchen kann. Seine Berechnungen zeigten ihm, dass das BVG zu einer «Deckungskapital-Sparwelle» (sprich überflüssigen Ersparnissen) von 4,6 BIP-Prozent führen würde. Das wiederum würde, so Würgler, mit hoher Wahrscheinlichkeit eine Immobilienspekulation und/oder einen Börsenboom befeuern. Folglich trat Würgler, selber Mitglied der FDP, für die Volkspension ein.

Inzwischen sind Würglers Berechnungen bestätigt und übertroffen worden. Weil die 2. Säule laufend noch mehr ausgebaut wurde, schwappt inzwischen eine Sparwelle von 8,5 BIP-Prozent über unsere Volkswirtschaft. Davon werden 5 Prozentpunkte von den Pensionskassen verursacht.

2. Säule ruht auf einer Blase

Der Pegelstand der Pensionskassenguthaben hat die 1000-Milliarden-Marke weit überschritten, was wiederum die Aktien- und Immobilienpreise in unsoziale Höhen treibt. Im Klartext: Die 2. Säule ruht auf einer Blase aus selbstgemachter, heisser Luft.

Diese 8,5 Prozent Überschuss bedeuten auch, dass die Schweiz gut 60 Milliarden unter ihren Verhältnissen lebt. Wir würden – nur um die Grössenordnung zu zeigen – auch nach einer Verdoppelung der heute 45 Milliarden AHV-Renten weiterhin einen Sparüberschuss aufweisen, von dem viele Länder nur träumen könnten.

Hans Würgler hat sich mit seinen Argumenten weder in der Expertengruppe geschweige denn bei der Volksabstimmung 1969 durchgesetzt. Doch dank ihm hat die Schweiz wenigstens einmal eine Altersvorsorge-Debatte mit volkswirtschaftlichen Argumenten geführt.

Frankenkurs im Aufwind

Heute sind wir davon weit entfernt: Die sinkenden Erträge der Pensionskassen sollen mit höheren Beiträgen und mehr Beitragsjahren kompensiert werden. Aus Sicht der Pensionskassenverwalter ist das die Lösung. Die volkswirtschaftliche Folge aber wäre ein Anstieg der Sparwelle auf weit über 10 BIP-Prozent. Das wiederum würde den Kurs des Frankens in schwindelerregende Höhen treiben.

Betreffend AHV rechnen uns die Experten genau vor, dass das Pensionsalter um X Jahre steigen muss, damit die AHV eine um Y Jahre gestiegene Lebenserwartung kompensieren kann. Da sei «doch logisch». Stimmt, sofern man nicht über den Rand der AHV-Kasse hinaus denkt und ignoriert, dass die Produktivität noch viel stärker gestiegen ist als die Lebenserwartung der Rentner.

Den (erneuten) Vorschlag der Linken, das Umlageverfahren der AHV zulasten der Pensionskassen auszubauen, kann man heute ganz einfach als «systemwidrig» abservieren. Stimmt, sofern man weiterhin davon überzeugt ist, dass «unser bewährtes 3-Säulensystem» für die ganze Welt ein Vorbild sei.

2. Säule steht schiefer als der Turm von Pisa

Dabei müssen wir diese Diskussion ja genau deshalb führen, weil die 2. Säule schiefer steht als der Turm von Pisa. Und weil sich das System eben nicht mehr bewährt in der neuen Welt, in der die Sparüberschüsse die Zinsen unter Null gedrückt haben und in der nicht alle Frauen von den Einkommen und von der Rente der Männer leben. Um nur zwei der vielen veränderten Umstände zu nennen.

Deshalb sollte Tschudis Nach-Nachfolger Alain Berset den Reset-Knopf drücken und eine neue «Expertenkommission zur Behandlung der volkswirtschaftlichen Fragen der Sozialversicherung» einberufen. Das nötige Knowhow finden die Damen und Herren Experten im ETH-Archiv für Zeitgeschichte. Im Nachlass von Hans Würgler.

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