Wirtschaftsexperte Vontobel ordnet ein
Das Problem der Entsendearbeit soll an der Wurzel gepackt werden

Bei der Entsendearbeit müsste die Frage der Zumutbarkeit an erster Stelle stehen. Die Forderung nach ortsüblichen Löhnen genügt nicht.
Publiziert: 06.05.2019 um 17:46 Uhr
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Aktualisiert: 06.05.2019 um 18:33 Uhr
Wirtschaftsexperte Werner Vontobel ordnet für BLICK aktuelle Themen der Gesellschaft und Wirtschaft ein.
Foto: Paul Seewer
Werner Vontobel

Nach unserem Arbeitsrecht ist die Versetzung von Arbeitnehmern an einen vom vertraglichen Arbeitsort abweichenden Einsatzort nur in Ausnahmefällen zumutbar. Etwa bei Monteuren. Zudem muss der Arbeitgeber für sämtliche Unkosten für Unterkunft, Transport etc. aufkommen, und der zusätzliche Arbeitsweg gilt als zu bezahlende Arbeitszeit.

Diese Gesetzeslage stammt aus einer fernen Zeit:

  • als der Schutz der Familie den Nationalstaaten noch heilig war
  • als die Arbeitslosigkeit noch tief war und man dort Arbeit fand, wo man lebte und seinen Familien- und Freundeskreis hatte
  • als man arbeitete, um zu leben, statt zu arbeiten, um zu überleben
  • als die Löhne noch halbwegs gleichmässig verteilt waren.

Heute leben wir in einer anderen, mobilen Welt, die in etwa so aussieht:

  • die reichsten 10 Prozent der Haushalte kassieren so viel, dass sie überall fürstlich leben können
  • die reichsten 30 Prozent bestreiten rund 80 Prozent des grenzüberschreitenden Privatkonsums
  • das ärmste Drittel muss froh sein, überhaupt irgendwo irgendeiner Arbeit nachgehen zu dürfen
  • die einstigen Wirtschafts- und Lebensräume sind zu Produktionsstandorten verkommen, die gegeneinander um die Kaufkraft der mobilen Oberschicht kämpfen

In diesem Geist hat das EU-Parlament 2006 die Richtlinie zum Dienstleistungsverkehr im Binnenmarkt erlassen. Danach ist «ein wettbewerbsfähiger Dienstleistungsverkehr für die Förderung des Wirtschaftswachstums und für die Schaffung von Arbeitsplätzen in der EU wesentlich». Auch KMU müssten demnach ihre «Dienstleistungen über die nationalen Grenzen hinaus erbringen» können, weil das «für die Verbraucher eine grössere Auswahl und bessere Dienstleistungen zu niedrigeren Preisen bedeutet».

Schärfere Regeln für Spesenzahlen

Um dem Verbraucher dienen zu können, gilt in der EU die «Grundfreiheit der Personenfreizügigkeit». Gemeint ist damit vor allem die Freiheit der Gutherren, ihr Humankapital dort grenzüberschreitend einzusetzen, wo es den höchsten Profit erwirtschaften kann. Das ist vor allem dort der Fall, wo das Lohnniveau tiefer ist als im eigenen Land. Inzwischen hat sich immerhin auch in der EU der Grundsatz durchgesetzt, dass auch die Entsender ihren Mitarbeitern den am Ort des Einsatzes üblichen Lohn zahlen müssen.

Vor einem Jahr hat das EU-Parlament sogar einer neuen Entsenderichtlinie zugestimmt, wonach «entsandte Arbeitnehmer (....) mindestens dieselben (....) Zulagen oder Kostenerstattungen zur Deckung der Reise-, Verpflegungs- und Unterbringungskosten erhalten wie gebietsansässige Arbeitnehmer in diesem Mitgliedstaat». Darüber hinaus sollten die «zuständigen nationalen Behörden überprüfen, ob die Wohnverhältnisse in den Unterkünften (...) mit den geltenden einschlägigen nationalen Bestimmungen des Aufnahmemitgliedstaats (...) im Einklang stehen».

Rechtmässige entsandte Arbeit lohnt sich nicht

Doch selbst wenn die Entsandten in anständigen Hotels untergebracht, wenn alle Spesen vom Entsender bezahlt und Reisezeit sowie Arbeit entlöhnt würden, müssten die entsandten Arbeitnehmer doch auf ihre Familie, Nachbarn und Bekannten verzichten. Sie leben nur, um zu arbeiten, zumindest werden viele das so empfinden. Die Frage der Zumutbarkeit bleibt ungestellt.

Diese Überlegungen machen klar: Wenn wir in unserer modernen Welt des Standortwettbewerbs die eingangs umrissenen Rechte der Arbeitnehmer wahren wollten, wäre entsandte Arbeit – von wenigen Ausnahmefällen abgesehen – schlicht kein Thema, weil viel zu teuer. Und wenn mal ein polnischer Maschinenhersteller einen Ingenieur zu einem Schweizer Kunden schicken muss, würde kein Hahn danach krähen, wenn dieser weiterhin bloss seinen polnischen Lohn erhielte.

Der Streit um den ortsüblichen Lohn ist eigentlich eine zweitrangige Frage. Doch leider ist der Lohn praktisch die einzige Handhabe, mit der sich die Gewerkschaften gegen das importierte Lohndumping wehren können. Auf dem Anmeldeformular für «entsandte Arbeitnehmende in der Schweiz» muss neben Name, Geburtsdatum, Beruf etc. bloss der «einzuhaltende Lohn» angegeben werden. Doch selbst dieser ist schwer zu kontrollieren.

Lohngefälle in EU-Staaten

Schweizer Arbeitnehmer können ihre Rechte notfalls mit Hilfe ihrer Gewerkschaften, mit Streiks oder vor Arbeitsgerichten durchsetzen. Entsandte Arbeitnehmer haben diese Möglichkeit nicht. Sie müssen in der Regel zufrieden sein, wenn sie nicht weniger Lohn erhalten als im Heimatland. Unter dem Strich heisst das, dass die Forderung nach ortsüblichen Löhnen nicht genügt.

Die Wurzel des Übels liegt tiefer, nämlich im grossen Lohngefälle zwischen und in den völlig kaputten Arbeitsmärkten innerhalb der EU-Länder. Letztlich ist das eine Frage des Anstands. Die überwiegende Mehrheit der EU-Bürger braucht dringend mehr Lohnschutz. Die Schweiz kann ihnen dabei ein wenig helfen.

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