Vor gut einem Jahr kam Ex-Raiffeisen-Chef Pierin Vincenz (63) nach mehrmonatiger Untersuchungshaft wieder auf freien Fuss. Seither wartet er auf die Anklage. Dass sein Fall allerdings jemals vor Gericht behandelt wird, glaubt ein Strafrechtsexperte nicht unbedingt. Warum, erklärt er gegenüber der «NZZ». Seinen Namen will der laut Zeitung renommierte Experte nicht öffentlich bekannt geben. Der Grund: Er sei am Rande in die Untersuchungen zum Fall Vincenz involviert gewesen.
Grundsätzlich möglich wäre ein «Freikaufen» für Vincenz dank dem Artikel 53 des Strafgesetzbuchs. Dieser sieht eine finanzielle Wiedergutmachung anstelle einer Anklage vor. In anderen Worten: Statt vor Gericht zu stehen, würden sich die Parteien aussergerichtlich einigen. Dafür muss Vincenz einen Antrag stellen und die Staatsanwaltschaft muss diesen genehmigen.
Nur bedingte Strafe
Damit ein Weg am Prozess vorbei überhaupt möglich ist, müssen gewisse Voraussetzungen erfüllt werden. Erstens muss eine bedingte Strafe in Aussicht stehen. Theoretisch läge die Maximalstrafe zwar bei drei bis fünf Jahren, doch laut Experte gibts solche unbedingten Haftstrafen nur bei «sehr hoher krimineller Energie» eines Täters. Bei Vincenz aber rechnet der Jurist mit maximal einer bedingten Haftstrafe von zwei Jahren – zumindest für diejenigen Vorwürfe, die heute schon bekannt sind.
Zweitens muss sich Vincenz darum bemühen, die geschädigten Unternehmen für das Unrecht zu entschädigen. Der Experte hält es laut «NZZ»-Bericht für wahrscheinlich, dass das bei Raiffeisen und Aduno gelingen könne.
Kein Grund für Vincenz am Pranger
Die dritte Voraussetzung betrifft auch die Öffentlichkeit. Diese muss wie auch die Geschädigten ein geringes Interesse an einer Anklage und einem Prozess haben. Da der Fall Vincenz aber sehr interessiert, scheint dieser Punkt gegen eine mögliche Wiedergutmachung zu sprechen. Trotzdem könnte der Punkt erfüllt sein, glaubt der Experte. Der Fall sei schon zu Genüge in der Öffentlichkeit ausgebreitet worden. Was bringe es noch, Vincenz an den Pranger zu stellen, fragt er sich im Artikel.
Zu guter Letzt sei für eine finanzielle Einigung auch noch ein «pragmatischer Staatsanwaltschaft» gefragt. Ein Vorteil hätte dieser Weg. Bis zu einem Urteil könnten bis zu fünf Jahre vergehen, aussergerichtlich liesse sich der Fall viel schneller abschliessen. Für eine solche Lösung spreche auch der Trend bei Strafrechtsprozessen in der Schweiz insgesamt. Immer häufiger einigten sich die Parteien ausserhalb des Gerichts.
Gegen den früheren Raiffeisen-Chef und auch Ex-Aduno-Chef Beat Stocker wird in mindestens drei Fällen wegen Verdachts auf ungetreue Geschäftsbesorgung und persönliche Bereicherung ermittelt. Für beide gilt die Unschuldsvermutung.