Vontobel ordnet ein
Bei BVG-Sanierung gehts nicht um 0,5, sondern um 10 Lohnprozente

Der Streit um die Revision der 2. Säule dreht sich um ein halbes Lohnprozent, das zudem noch «systemfremd» sei. Nur: Möchte man die 2. Säule systemkonform sanieren, bräuchte es eher 10 Lohnprozente mehr.
Publiziert: 30.01.2020 um 15:49 Uhr
Teilen
Anhören
Kommentieren
1/2
Werner Vontobel rechnet nach: Um die 2. Säule der Altersvorsoge, die Pensionskassen, nachhaltig zu finanzieren, wären rund 10 zusätzliche Lohnprozente nötig.
Foto: Paul Seewer
Werner Vontobel

Klar, unser Vorsorgesystem ist in Schieflage. Doch wie schief? Schauen wir uns die volkswirtschaftlichen Grössen an: Die AHV zahlt pro Jahr rund 45 Milliarden Franken an Renten aus, die Pensionskassen schütten 32 Milliarden Franken aus. Die durchschnittliche Rentenbezugsdauer (Witwenrenten eingerechnet) liegt etwa bei 25 Jahren.

Werden die Menschen älter, steigt auch die Rentenbezugsdauer. Konkret: Jedes zusätzliche Jahr kostet rund vier Prozent mehr Rente. Seit der letzten Revision der Altersvorsorge ist die Lebenserwartung der 65-Jährigen um 2,6 Jahre gestiegen.

Das heisst: Wir reden von einem Mehrbedarf von maximal 8 Milliarden, wovon etwa 3,5 Milliarden auf die Pensionskassen entfallen. Bei einem Leistungsbilanzüberschuss von jährlich gut 60 Milliarden Franken wäre das nicht wirklich ein Problem. Das heisst, die Schweiz nimmt viel mehr Geld ein, als sie ausgibt. Mit diesem Überschuss wären mehr Renten locker zu finanzieren.

Renditen schrumpfen

Wären, also nur im Konjunktiv: Denn die 2. Säule wird im Kapitaldeckungsverfahren finanziert. Jeder Beitragsfranken liegt rund 35 Jahre lang am Zins. Die Pensionskassen haben ein Vermögen von gut 1000 Milliarden Franken aufgebaut. Das System ist also sehr anfällig auf Zinsveränderung. Bei der letzten Revision von 2000 ging der Bundesrat noch von einer Rendite von 5 Prozent aus.

Daraus ergab sich ein Umwandlungssatz von 6,8 Prozent – 6800 Franken Jahresrente pro 100'000 Franken Sparkapital. Jetzt will die Regierung den Umwandlungssatz auf 6 Prozent und die Rente somit um rund 12 Prozent senken. Damit deckt sie – rein rechnerisch – einen Rückgang der Rendite auf 4 Prozent und ein zusätzliches Rentenjahr ab.

Das politisch Machbare

Das ist wenig. Vor allem, wenn man bedenkt dass der Zins auf 10-jährige Bundesobligationen seit der letzten Revision von 3,5 auf minus 0,5 Prozent gesunken ist, und dass die Lebenserwartung der Rentner gemäss dem Bundesamt für Statistik bis 2035 um weitere 2,3 Jahre steigen wird.

Offenbar gehen der Bundesrat und die Sozialpartner, die diesen Kompromiss geschlossen haben, einfach vom politisch Machbaren aus. Auf diese Weise konnten sie eine Vorlage zimmern, die eine relative bescheidene Rentenkürzung vorsieht, und diese mit einem Rentenzuschuss von monatlich 200 Franken wenigstens für die tiefen Renten halbwegs abfedert. Die entsprechenden Kosten sollen mit einer Halbierung des Koordinationsabzugs und mit 0,5 zusätzlichen Lohnprozenten finanziert werden.

Glaubenskrieg um ein halbes Prozent

Wie extrem klein der Spielraum des politisch Machbaren ist, zeigt der Glaubenskrieg, der nun um diese 0,5 Prozent entbrannt ist. Die Kritiker, allen voran die NZZ aber auch der Gewerbeverband, werfen dem Bundesrat vor, ein «systemwidriges» Umlage- und Umverteilungselement in das Kapitaldeckungssystem der 2. Säule eingebaut zu haben.

Das stimmt: Der Ertrag aus dem halben Prozent wird direkt (im Umlagesystem) in Renten umgewandelt und gleichmässig an alle umverteilt. Das kann man als «Tabubruch» bezeichnen. Zudem seien die 0,5 Lohnprozent nicht tragbar: «Angesichts ihrer knapperen Margen haben die Detailhändler und Baufirmen Bedenken wegen der höheren Lohnabgaben», schreibt die NZZ, und stichelt: «Doch der Gewerkschaftsbund foutiert sich um solche Sorgen.»

Nüchtern betrachtet sind diese 0,5 Prozent jedoch ein Klacks im Vergleich zum wahren Ausmass des Problems. Geht man von realistischen Annahmen aus, braucht es für eine «systemkonforme» Sanierung eher 10 statt bloss 0,5 Lohnprozente.

Es braucht viel mehr Lohnprozente

In ihrer Pensionskassenstudie 2019 geht Swisscanto von einer Rendite von 2 statt 4 Prozent aus. Unterstellt man zudem eine Zunahme der Lebenserwartung nicht nur um ein, sondern um drei Jahre, so müsste man die Sparbeiträge im BVG-Minimum um 110 Prozent erhöhen, wenn man die Renten stabil halten will.

Das entspräche gut 12 zusätzlichen Lohnprozenten. Und auch bei einer Rendite von 2,7 Prozent müssten die Sparbeiträge um gut 9 Prozentpunkte erhöht werden. Das wäre in der Tat nicht nur für den Detailhandel und die Bauindustrie nicht zu verkraften.

Um diese auf den ersten Blick überraschenden Zahlen einordnen zu können, muss man sich daran erinnern, dass die Sparbeiträge des BVG im Schnitt fast 35 Jahre am Zins liegen, bevor sie aufgebraucht werden. Bei 4 Prozent Zins vervierfachen sie sich in dieser Zeit, während sie sich bei 2 Prozent lediglich verdoppeln. Das ist ein Unterschied von satten 100 Prozent! Drei Jahre mehr Lebenserwartung verteuern die Rechnung also um weitere rund 12 Prozent.

Die Tücken des Systems

Die Finanzierung der Rente ist weniger ein Problem der Leistungsfähigkeit der Wirtschaft als vielmehr der Tücken des Vorsorgesystems. Im Umlageverfahren müssen wir bloss mit drei zusätzlichen Rentenjahren fertig werden, und die Mehraufwendungen fliessen direkt in den Wirtschaftskreislauf zurück.

Im Kapitaldeckungsverfahren hingegen müssen wir den kombinierten Schock von 2 Prozent weniger Zins und drei zusätzlichen Rentenjahren abfangen. Zu diesem Zweck zwingt uns das System, allein für die Sicherung der BVG-Renten jährlich statt bisher rund 40 neu rund 75 Milliarden Franken zusätzlich auf die hohe Kante zu legen und das Kapital der 2. Säule auf rund 1400 Milliarden Franken aufzustocken. Erst so könnte die höhere Rente «systemkonform» finanziert werden.

Widerstand gegen Umverteilung

Dabei braucht die Schweizer Wirtschaft die von der 2. Säule generieren Ersparnisse schon bisher nicht. Sowohl der Staat als auch die Unternehmen finanzieren sich seit Jahren locker aus den laufenden Einnahmen. In der Schlussabrechnung landen die Ersparnisse also im Ausland oder zu Negativzinsen auf den Konten der Nationalbank. Doch zuvor drehen sie noch ein paar Runden auf den Aktien- und Immobilienmärkten und treiben dort die Preise hoch.

Für die Finanzindustrie hingegen sind die bald schon 1400 Milliarden ein Lebenselixier. Kein Wunder will sie jeden Versuch, auch nur ein klein bisschen Umverteilung ins Kapitaldeckungssystem zu schmuggeln, im Keime ersticken.

Teilen
Fehler gefunden? Jetzt melden
Was sagst du dazu?
Externe Inhalte
Möchtest du diesen ergänzenden Inhalt (Tweet, Instagram etc.) sehen? Falls du damit einverstanden bist, dass Cookies gesetzt und dadurch Daten an externe Anbieter übermittelt werden, kannst du alle Cookies zulassen und externe Inhalte direkt anzeigen lassen.