Urs Niggli, Direktor des Forschungsinstituts für biologischen Landbau
«Fleischverzicht rettet die Welt nicht»

Urs Niggli gehört zu den weltweit führenden Experten für biologische Landwirtschaft. Er kritisiert die Bio-Bewegung für ihre konservative Haltung und hält viele Lebensmittelskandale für Hysterie.
Publiziert: 26.08.2017 um 17:03 Uhr
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Aktualisiert: 30.09.2018 um 15:50 Uhr
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«Bio verbinden viele Menschen mit Natürlichkeit. Der Gedanke ist falsch», sagt Urs Niggli.
Foto: Mirko Ries
Interview: Benno Tuchschmid

BLICK: Herr Niggli, was soll ich essen?
Urs Niggli: Nehmen Sie einfach die Ernährungspyramide ernst, das haben Sie schon in der Primarschule gelernt. Das bedeutet: viel aus dem Rohfaserreich wie Früchte und Gemüse, aber nur wenig verar­beitete Getreideprodukte. Fleisch sowie Milchprodukte mit Mass und Süssigkeiten sehr zurückhaltend.

Klingt einfach, ist es aber nicht. Wenn ich mich gesund ernähren und den Planeten schonen will: Kaufe ich ein biologisches Produkt oder ein regionales?
Lokal kaufen hat nicht zwingend etwas mit Nachhaltigkeit zu tun. Sie unterstützen so die lokale Wertschöpfungskette. Das ist ein Aspekt.

Nicht mehr?
Ihre Nahrung legt weniger Distanz zurück. Aber Gemüse, das im Winter aus Nordafrika importiert wird, hat den gleichen Energieverbrauch, wie wenn es zur selben Zeit im beheizten und beleuchteten Gewächshaus in der Schweiz hergestellt wird. Lokal ist fürs Klima nicht zwingend besser.

Aber Bio ist immer gesünder?
Es ist gesundheitlich das Tüpfli auf dem i. Aber man muss auch klar ­sagen: Für eine gesunde Ernährung ist die Ernährungspyramide wichtiger als die Frage Bio oder nicht. Wenn jemand nicht viel im Portemonnaie hat, dann achtet er lieber auf eine ausgewogene Ernährung, als mehr auszugeben für Bio und dafür ungesund zu essen.

Essen Sie Fleisch?
Ja.

Meine 21-jährige Cousine isst vegan. Ich esse Fleisch. Wir hatten eine Diskussion, und irgendwann gingen mir die Argumente aus. Gibt es Gründe, Fleisch zu essen?
Vegetarische und vegane Ernährung sind persönliche Entscheide, die ich wunderbar finde. Je mehr Leute auf Fleisch verzichten, desto besser. Wir müssen den Fleisch­konsum drastisch senken, er schadet im heutigen Ausmass dem Planeten.

Aber?
Die Welt retten wir so nicht. Es ist Nonsens zu behaupten, alle Probleme der Welt wären gelöst, wenn sich die Menschheit vegan ­ernähren würde. Im Gegenteil.

Sie sagen, es wäre schädlich?
Weltweit sind zwei Drittel der landwirtschaftlichen Fläche ackerbaulich nicht nutzbar, nur fürs Vieh. Wollen wir Fleisch und Milch durch pflanzliche Produkte ersetzen, müssten wir die Landwirtschaft auf den Ackerbauflächen massiv intensivieren. Das wäre mit nachhaltigem Anbau unmöglich. Also stärken wir letztlich die konventionelle, umweltschädliche Landwirtschaft. Die Folgen wären mehr Bodenerosion, weniger Biodiversität, höhere Klima- und Grundwasserbelastung.

Aber heute wird ein Grossteil der Ackerfläche für Tierfutter ­gebraucht!
Nur ein Viertel der Äcker oder 390 Millionen Hektaren. Das würde aber die Milch und das Fleisch von 3,4 Milliarden Hektar Dauerwiesen und -weiden nicht ersetzen. Und der Mist vom Vieh würde zur Düngung fehlen, was die Erträge ohne Kunstdünger senken würde.

Die Schweiz ist führend im Bio-Landbau. Wieso?
Das ist historisch bedingt. Es gab hier schon im frühen 20. Jahrhundert viele Bio-Pioniere.

Und welche Rolle spielte Ihr Forschungsinstitut für biologischen Landbau, das 1973 das erste Institut für biologische Landwirtschaft war?
Unsere Forschung und Beratung wurde zu einem Leitstern. Wir schrieben damals die ersten Richtlinien der Bio-Suisse-Knospe. Diese wurden von der globalen Bio-Landbau-Dachorganisation Ifoam übernommen, und von dort wanderte sie in die EU-Gesetzgebung.

Schweizer Bio-Landbau strahlte also stark aus.
Ja, Bio ist ein gutes Beispiel einer echten Schweizer Innovation.

Sie begannen 1990 an Ihrem Institut als gesellschaftlicher Aussenseiter, und heute ist Bio Mainstream.
Es ist immer noch eine Nische. In der Schweiz sind 13,5 Prozent der Fläche und knapp 8 Prozent des Marktes biologisch. In 15 Jahren könnte Bio in der Schweiz 20 Prozent des Marktes ausmachen. Dann ist es keine Nische mehr.

Es ist absurd: Einerseits gibt es einen globalen Bio-Trend. Auf der anderen Seite jagen sich die Lebensmittelskandale.
Ich will nichts verharmlosen, aber wir tendieren zur Hysterie. Dank präziser Messmethoden können wir heute jede Verunreinigung in Kleinstmengen messen. Früher konnte man Spuren gar nicht messen, also hatten wir weniger Skandale. Paracelsus sagte: Ob etwas giftig oder gesund ist, ist eine Frage der Dosis. Das vergisst man heute manchmal.

Aber der Eierskandal in Holland, Belgien und Deutschland ...
Dahinter steckt eine kriminelle Handlung. Dort wurde in ein harmloses Mittel zum Entlausen das Gift Fipronil gemischt. Zum Glück hat man das entdeckt.

In der Schweiz fühlen wir uns auch in der Landwirtschaft als Sonderfall, als heile, natürliche Welt. Sind wir wirklich so gut?
Vieles ist in der Schweizer Landwirtschaft überdurchschnittlich gut. Aber es gibt eine andere Seite: Wir importieren sehr viel Kraftfutter, weil unsere Böden nicht genug hergeben. Ein Schweizer Huhn frisst brasilianisches Soja, und der Kot mit Stickstoff, Phosphat und Kali bleibt in der Schweiz zurück. Wir sind eine Senke für globale Düngstoffe, und das schadet der Umwelt.

Also hat die Realität doch nichts mit der Natürlichkeit zu tun, die wir mit der Schweizer Landwirtschaft verbinden?
Was heisst schon Natürlichkeit? Die Menschheit kann sich nur ernähren, weil sie sich von der Natur entfernt hat. Auch Bio verbinden viele Menschen mit Natürlichkeit. Der Gedanke ist falsch. Jeder produzierende Landwirtschaftsbetrieb ist meilenweit von der Natur entfernt.

Sie haben sich dafür eingesetzt, neue Zuchtmethoden nicht kategorisch auszuschliessen. Wie das sogenannte Crispr-Verfahren, bei dem DNA ­gezielt verändert wird. Für viele Vertreter des Bio-Landbaus ­haben Sie damit ­Gentech unterstützt. ­Wieso taten Sie das?
Ich gebe zu: In der heutigen Situation, in der man noch nicht weiss, ob der Gesetzgeber die neusten Züchtungsmethoden als Gentech bezeichnet oder nicht, waren meine Aussagen dumm.

Wieso haben Sie sie dann ­gemacht?
Weil wir ein doppeltes Problem haben: Die konventionelle Landwirtschaft muss mit viel weniger Pestiziden und Düngern auskommen, und der Bio-Landbau, der ökologisch super ist, muss ertragreicher werden. Rasche Fortschritte mit modernster Züchtung sind deshalb interessant.

Wie gross ist der Unterschied beim Ertrag?
Der Bio-Landbau ist 20 bis 30 Prozent weniger ertragreich als die konventionelle Landwirtschaft.

Das muss sich ­ändern?
Die einen sagen, das macht nichts, weil wir so oder so zu viel essen. Wenn man die Tierproduktion halbieren würde und die Abfälle auch, dann könnten wir mit einem modernen Bio-Landbau 2050 die Menschen ernähren. Das zeigen unsere Berechnungen. Und darauf setzen viele.

Sie zweifeln daran?
Niemand weiss, wie wir das erreichen! Beim Recyceln machen wir zwar Fortschritte, wir haben auch ein Projekt hier am Institut, bei dem wir biologische Abfälle zur Zucht von Insekten verwenden und aus diesen dann Protein für Futtermittel gewinnen. Aber der Handel sortiert Früchte nach wie vor aus, wenn sie nicht perfekt sind, weil sie niemand kauft. Und Entwicklungsländer beginnen gerade erst richtig, Fleisch zu essen. Was wir reduzieren, holen sie wieder auf.

Was ist die Lösung?
Der Bio-Landbau setzt auf viel traditionelles Wissen und die normale Landwirtschaft auf Hightech. Ich glaube, dass die Probleme es erfordern, die ganze Intelligenz einzusetzen. Es gibt kein Entweder-oder.

Was meinen Sie damit?
Auch Bio-Bauern nutzen modernste Computertechnologie ohne Bedenken. Wir steuern bald Traktoren aus der Cloud. Kleine Roboter werden künftig Insekten vernichten und Unkraut jäten. Aber auf der anderen Seite bestehen extrem konservative Ansichten in der Biologie.

Nachhaltigkeit mit Gentech zu erzeugen, ist wie die Energiewende mit Atomstrom herbeiführen zu wollen.
Diese Meinung vertreten viele. Aber die Alternativ-Energie ist mit Hightech vollgepackt. Als Kinder legten wir einen Gummischlauch in den Garten, die Sonne erhitzte ihn, und wir konnten 30 Sekunden warm duschen. So hätten wir keine AKW abschalten können.

Kann die Landwirtschaft überhaupt je nachhaltig werden?
Im 20. Jahrhundert hat die Agrarforschung etwas Sensationelles vollbracht. Erstmals in der Geschichte der Menschheit ist die Produktion von Nahrungsmitteln stärker angestiegen als die Bevölkerung. Zuvor verging kein Jahrhundert ohne Hungersnot. Man darf nicht hoch genug einschätzen, dass wir dieses Problem lösen konnten.

Aber zu welchem Preis?
Der Preis war eine enorme Umweltbelastung und ein grosser Ressourcenverschleiss. Jetzt müssen wir «nur» noch dieses Problem lösen und gleichzeitig das Ertragsniveau halten. Ich glaube, wir können das.

Landwirtschaft ist in der Schweiz hochpolitisiert. Was ­halten Sie von der Ernährungs­sicherheits-Initiative?
Im Prinzip steht das alles schon heute im Gesetz. Und die Schweiz würde rasch in Konflikt mit dem Natur- und Umweltschutz kommen, wenn die Inlandproduktion gesteigert würde.

Dann sind Sie auf der Linie Johann Schneider-Ammanns, der möglichst viel freien Handel auch in der Landwirtschaft fordert?
Qualität, Tierwohl und Umweltschutz sind ein Wettbewerbsvorteil für die Schweizer Landwirte. Diese dürfen nicht verwässert werden. Neben den Direktzahlungen braucht es aber wohl trotzdem noch einen gewissen Grenzschutz.

Zur Person

Der Bio-Professor

Urs Niggli (64) ist Direktor des Forschungsinstituts für biologischen Landbau in Frick AG, das in diesem Bereich als weltweit führend gilt. Niggli studierte Agronomie an der ETH. Danach arbeitete er in verschiedenen Positionen an der ETH und bei der Eidgenössischen Forschungsanstalt für Obst-, Wein- und Gartenbau (FAW). Niggli ist Honorarprofessor an der Universität Kassel, Ehrendoktor an der Universität Tartu in Estland sowie Mitglied zahlreicher nationaler und internationaler Expertengremien. Er lebt in Frick, ist geschieden und Vater von vier erwachsenen Kindern.

Der Bio-Professor

Urs Niggli (64) ist Direktor des Forschungsinstituts für biologischen Landbau in Frick AG, das in diesem Bereich als weltweit führend gilt. Niggli studierte Agronomie an der ETH. Danach arbeitete er in verschiedenen Positionen an der ETH und bei der Eidgenössischen Forschungsanstalt für Obst-, Wein- und Gartenbau (FAW). Niggli ist Honorarprofessor an der Universität Kassel, Ehrendoktor an der Universität Tartu in Estland sowie Mitglied zahlreicher nationaler und internationaler Expertengremien. Er lebt in Frick, ist geschieden und Vater von vier erwachsenen Kindern.

Die Öko-Bewegung

Die Schweiz gilt als Ursprungsland der biologischen Landwirtschaft. Bereits in den 1920er-Jahren begannen Pioniere, auf nachhaltige Agrarwirtschaft zu setzen. Es waren dies einerseits Anhänger des in die Schweiz zugewanderten deutschen Anthroposophen Rudolf Steiner, die biologisch-dynamische Anbaumethoden einführten.

Es gab aber auch weniger esoterische Ansätze: Auch der Emmentaler Agrarwissenschaftler Hans Müller, der für die Bauern-, Gewerbe- und Bürgerpartei (heute SVP) von 1928 bis 1947 im Nationalrat sass, wollte die Unabhängigkeit der Kleinbauern von Saat- und Düngerproduzenten verringern – und deshalb Bauern zu einem möglichst geschlossenen Kreislauf animieren.

1973 wurde das Forschungsinstitut für biologischen Landbau (FiBL) gegründet. Von hier aus wurden die ersten seriösen Bio-Richtlinien festgelegt, die danach auf Bundesebene und auch von der EU übernommen wurden. Unter Urs Niggli wuchs das Institut stark. In den nächsten Jahren wird der FiBL-Standort in Frick für 24,5 Millionen Franken aus- und umgebaut.

Die Schweiz gilt als Ursprungsland der biologischen Landwirtschaft. Bereits in den 1920er-Jahren begannen Pioniere, auf nachhaltige Agrarwirtschaft zu setzen. Es waren dies einerseits Anhänger des in die Schweiz zugewanderten deutschen Anthroposophen Rudolf Steiner, die biologisch-dynamische Anbaumethoden einführten.

Es gab aber auch weniger esoterische Ansätze: Auch der Emmentaler Agrarwissenschaftler Hans Müller, der für die Bauern-, Gewerbe- und Bürgerpartei (heute SVP) von 1928 bis 1947 im Nationalrat sass, wollte die Unabhängigkeit der Kleinbauern von Saat- und Düngerproduzenten verringern – und deshalb Bauern zu einem möglichst geschlossenen Kreislauf animieren.

1973 wurde das Forschungsinstitut für biologischen Landbau (FiBL) gegründet. Von hier aus wurden die ersten seriösen Bio-Richtlinien festgelegt, die danach auf Bundesebene und auch von der EU übernommen wurden. Unter Urs Niggli wuchs das Institut stark. In den nächsten Jahren wird der FiBL-Standort in Frick für 24,5 Millionen Franken aus- und umgebaut.

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