Ukraine-Botschafterin Iryna Wenediktowa im Interview
«Die Schweizer erinnern mich an die Ukrainer»

Die ukrainische Botschafterin Iryna Wenediktowa spricht über Waffenhilfen, ihr Bild von der Schweiz und einen möglichen Besuch von Berset in Kiew.
Publiziert: 22.04.2023 um 14:27 Uhr
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Aktualisiert: 18.01.2024 um 10:19 Uhr
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Iryna Wenediktowa ist in der Ukraine als Oligarchenjägerin bekannt. Im Interview spricht sie über Waffenhilfen und ihr Bild von der Schweiz.
Foto: AFP
Fabienne Kinzelmann, «Handelszeitung»
Handelszeitung

Braunes Kostüm, die Augen starr, der Mund zusammengekniffen. So erscheint Iryna Wenediktowa zum Interviewtermin. Statt einer richtigen Begrüssung erklärt die ukrainische Botschafterin, sie habe einen Schock. Ob man das Video schon gesehen habe? Über das Präsident Selenski gesprochen habe?

Sie nimmt ihr Handy und beginnt, ein brutales Enthauptungsvideo abzuspielen, das in den sozialen Medien herumgeht. Es ist stark verschwommen und soll einen russischen Kämpfer zeigen, der einem ukrainischen Soldaten mit einem Messer den Kopf abschneidet. Der Mord dauert quälend lang, das Blut fliesst.

Einwände, die expliziten Gewaltszenen nicht sehen zu wollen, akzeptiert die Botschafterin nicht, denn es gehe ja darum, die Brutalität des Krieges zu begreifen. Sie habe eigentlich vor allem über die Wirtschaft in der Ukraine sprechen wollen, sagt Wenediktowa. Jetzt wisse sie gar nicht mehr, ob sie das könne, schliesst sie, bevor sie zurück in einen professionellen Modus wechselt. Es bleiben vierzig Minuten für das Gespräch.

Danke, dass Sie sich Zeit fürs Interview nehmen.
Iryna Wenediktowa: Ich weiss es sehr zu schätzen, dass Sie hier sind. Das ist ja nicht nur unser Krieg.

Es gibt Kräfte in der Schweiz und in vielen anderen Ländern, die das zunehmend bezweifeln. Die Unterstützung für die Ukraine scheint mit der Länge des Kriegs zu schwinden.
Dabei kämpfen wir für die Verteidigung aller Länder in Europa. Nach dem Zweiten Weltkrieg verhiess Europa Frieden. Was wir jetzt sehen, geht in eine absolut andere Richtung. Und wir Ukrainerinnen und Ukrainer spüren das schon lange. Wir leben ja eigentlich schon seit neun Jahren im Krieg.

Sie sind jetzt seit 100 Tagen im Amt. Haben Sie das Gefühl, dass die Schweiz klar an Ihrer Seite steht?
Ich treffe hier täglich die unterschiedlichsten Leute, und der grösste Teil ist sehr, sehr freundlich und menschlich und begegnet mir mit voller Herzlichkeit und Offenheit. Das zeigt sich auch in der Aufnahmebereitschaft: Vor der Invasion lebten hier nur 7000 Ukrainerinnen und Ukrainer, jetzt sind es mehr als 100’000.

Zur Person

Die Juristin Iryna Wenediktowa (Jahrgang 1978) ist seit dem 10. Januar 2023 Botschafterin für die Ukraine in Bern. Sie folgte auf Artem Rybchenko, der nach vier Jahren in der Schweiz als Sonderbotschafter für den Wiederaufbau nach Kiew zurückkehrte. Wenediktowa gilt als enge Vertraute des ukrainischen Präsidenten. Dennoch suspendierte er sie als Generalstaatsanwältin im Juli vergangenen Jahres.

Die Juristin Iryna Wenediktowa (Jahrgang 1978) ist seit dem 10. Januar 2023 Botschafterin für die Ukraine in Bern. Sie folgte auf Artem Rybchenko, der nach vier Jahren in der Schweiz als Sonderbotschafter für den Wiederaufbau nach Kiew zurückkehrte. Wenediktowa gilt als enge Vertraute des ukrainischen Präsidenten. Dennoch suspendierte er sie als Generalstaatsanwältin im Juli vergangenen Jahres.

Reicht Ihnen das als politisches Bekenntnis?
Das ist eine gute Frage. In Gesprächen habe ich oft das Gefühl, dass persönliche Ansichten und die Interessen des Staates stark voneinander getrennt werden. Meine Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartner in den Behörden und Bundesstellen vertreten menschliche Positionen, aber auf der anderen Seite sind sie sehr professionell.

Am Ende steht die Schweizer Neutralitätspolitik oft im Weg.
Die Situation ist kompliziert. Ich verstehe, dass es besonders in einem Wahljahr keine einfachen Lösungen gibt. Ich bin schon froh, dass wir überhaupt so einen guten Dialog haben. Die Schweizerinnen und Schweizer erinnern mich sehr an uns Ukrainerinnen und Ukrainer. Wir haben ebenfalls viel Würde. Wir mögen es nicht, wenn jemand Druck macht. Man kann nicht einfach in die Ukraine kommen und sagen: Macht das so und so. Und in der Schweiz funktioniert das auch nicht.

Wie gehen Sie damit als Botschafterin eines Landes um, in dem täglich Hunderte sterben?
Ich bin geduldig und erkläre meine Anliegen auch gerne hundert- oder tausendmal, wenn es notwendig ist. Wenn ich hier E-Mails schreibe, bekomme ich immer Antworten. Diese offenen Türen sind wichtig für mich.

Dafür, dass die Schweiz Ihre erste diplomatische Station ist, klingen Sie wie eine Profidiplomatin.
Ach, ich versuche einfach nur, meinem Land und meinen Landsleuten bestmöglich zu dienen. Es ist ein Privileg, das in so einem einzigartigen, wenn auch nicht immer ganz einfachen Land zu tun wie der Schweiz.

Warum hat Präsident Selenski Sie ausgerechnet in die Schweiz geschickt?
Das sollten Sie besser den Präsidenten fragen!

Sie haben sich in der Ukraine als Oligarchenjägerin einen Namen gemacht. Und dann werden Sie ausgerechnet in das Land mit dem grössten Finanzplatz für grenzüberschreitende Vermögensverwaltung geschickt. Das ist doch kein Zufall.
Ich bin wirklich stolz, dass ich zweieinhalb Jahre lang Generalstaatsanwältin war. Und ja, natürlich habe ich in dieser Zeit auch einige Oligarchenfälle behandelt.

Ihr Strafverfahren gegen den ehemaligen CEO und zwei weitere Ex-Topmanager der grössten Bank der Ukraine, der Kommerzbank Privatbank, galt damals als Antikorruptions-Stresstest für die neue Regierung unter Wolodimir Selenski.
Ja, das hätten auch andere Staatsanwälte vorantreiben können. Aber niemand ausser mir wollte sich mit den Verdächtigen anlegen. Darauf bin ich schon stolz. Aber noch wichtiger finde ich meine Zusammenarbeit mit dem Internationalen Strafgerichtshof bei Kriegsverbrechen und bei der Kommunikation. Davor war ich Vorsitzende des Ausschusses für Rechtspolitik im Parlament: 14 Jahre lang habe ich den Stuhl für Zivilrecht an der Universität geleitet und war Schiedsrichterin eines Handelsgerichts.

Inwiefern macht Sie Ihr Lebenslauf zu einer guten Botschafterin für die Schweiz?
Ich denke, weil ich die Situation inner- und ausserhalb der Ukraine verstehe. Mit der Schweiz habe ich auch schon beim Projekt zur Unterstützung der Wiederherstellung von Vermögenswerten zusammengearbeitet. (Rückgabe gestohlener Vermögenswerte an die Ukraine, welche bei Schweizer Banken gesperrt sind, Anm. d. Red.) Ich verstehe, wie wir diese Beziehung zu einem Win-Win für beide Seiten machen können.

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«Der Brain Drain ist ein riesiges Problem für den ukrainischen Staat.»
Die ukrainische Botschafterin Iryna Wenediktowa
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War es für Sie eigentlich seltsam, aus einem Kriegsgebiet in der Schweizer Idylle anzukommen?
Nein, weil ich hier im Interesse meiner Landsleute bin. Ich bin mit der Realität des Krieges jeden Tag konfrontiert, und ich diene hier meinem Land – es macht für mich keinen Unterschied, von wo aus ich das tue. Jede Ukrainerin, jeder Ukrainer kämpft an ihrer oder seiner ganz eigenen Front, und wir alle geben unser Bestes, so schnell wie möglich zu gewinnen. Jeden Tag, jede Minute verlieren wir Menschen: Soldaten, Zivilisten, Kinder. Dazu kommt eine ganze Generation auf der Flucht.

Mehr als fünf Millionen Ukrainerinnen und Ukrainer haben sich in anderen europäischen Ländern für temporären Schutz registriert. Was bedeutet das für Ihr Land?
Der Brain Drain ist ein riesiges Problem für den ukrainischen Staat. Wir haben so schlaue Menschen. Aber natürlich versuchen sie, woanders ein neues Leben anzufangen. Und wenn deren Kinder erstmal irgendwo anders in die Schule oder in den Kindergarten gehen, wird es schwierig, sie zurückzuholen. Dabei brauchen wir sie dringend.

Sie haben darum gebeten, nicht über Ihr Privatleben zu sprechen. Haben Sie Feinde?
Natürlich, eine Menge. Und ich erinnere mich auch sehr gut daran, wie meine Hunde vergiftet wurden. Einer hat es nicht überlebt. Aber so ist das eben, wenn man das macht, was ich mache.

Können Sie sich hier eigentlich frei bewegen?
Oh, ich habe schon einen Bodyguard. Aber die Schweiz ist ja zum Glück sehr sicher, trotz meines Hintergrunds.

Wie würden Sie Ihr Ziel für Ihre Amtszeit beschreiben?
Erstens, zum Sieg mit allen möglichen Mitteln beizutragen. Zweitens, mit der Schweiz am Wiederaufbau der Ukraine zu arbeiten. Und natürlich, alles für Ukrainerinnen und Ukrainer hier zu tun. Dass sie sich sicher fühlen, alles haben, was sie brauchen, und die Möglichkeit haben, später zurückzukehren.

Artikel aus der «Handelszeitung»

Dieser Artikel wurde erstmals in der «Handelszeitung» publiziert. Weitere spannende Artikel findest du auf www.handelszeitung.ch.

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Die Schweiz will der Ukraine bis 2028 mindestens weitere 1,8 Milliarden Franken zur Verfügung stellen. Sind Sie damit zufrieden?
Das ist eine wirklich gute Perspektive!

Hand aufs Herz: Wie sehr frustriert es Sie, dass die Schweiz die Wiederausfuhren für dringend benötigte Munition blockiert und der Such-Taskforce für Oligarchengelder nicht beitreten will?
Wir arbeiten daran. Dass das Kriegsmaterialgesetz noch nicht gelockert wurde, hat uns wirklich überrascht. Seither versuchen wir, in persönlichen Gesprächen mit Parlamentariern, Beamten, Unternehmen und Vertretern der Zivilgesellschaft noch mehr zu erklären.

Bringt das was?
Ich denke schon, dass die Wiederausfuhren noch erlaubt werden. Denn es ist eine legitime Position, auch für ein neutrales Land. Es verhält sich damit genauso wie mit den Sanktionen, denen sich die Schweiz ja auch angeschlossen hat. Die Frage nach Re-Exporten hätte rechtlich nie mit der Neutralität verknüpft werden dürfen. Das mit Leuten zu diskutieren, ist mein Job. Und ich glaube, unsere demokratischen Werte sind die gleichen.

Hat sich Alain Berset bei Ihnen eigentlich für seine «Kriegsrausch»-Aussage entschuldigt?
Ich kann mir nicht vorstellen, dass ein Präsident eine Botschafterin dafür anrufen würde. Ich habe zur Kenntnis genommen, dass er später eingeräumt hat, dass das nicht korrekt war. Wir würden ihn gerne in die Ukraine einladen, dann könnte mein Präsident mit ihm die unterschiedlichen Perspektiven besprechen.

Aus welchem Grund weigert sich die Schweiz Ihrer Ansicht nach, der Oligarchen-Taskforce Repo beizutreten?
Keine Ahnung. Es ist ja nicht mal so, dass sie dann irgendeine Kontrolle an Ukrainer oder Amerikaner abgeben würden. Die Schweizer selbst könnten dann besser schmutziges Geld aufspüren. Es geht dabei ausserdem um Solidarität. Das ist nichts anderes, als sich dem Internationalen Strafgerichtshof anzuschliessen.

Vor dem Krieg war die Schweiz die fünftgrösste Investorin in der Ukraine. Viele Firmen haben in der Ukraine etwa IT-Leute beschäftigt. Werden diese dauerhaft in andere Länder verlegt?
Das müssen wir verhindern, wenn es irgendwie geht. Aber gerade sehen wir noch täglich Angriffe in verschiedenen Regionen. Wir können unmöglich sagen, dass diese oder jene Stadt sicher ist. Der Krieg gegen die Ukraine ist sehr aggressiv, sehr brutal, sehr barbarisch.

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«Schweizer Investitionen lohnen sich für beide Seiten.»
Die ukrainische Botschafterin Iryna Wenediktowa
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Im Mai findet in Lugano eine zweitägige Konferenz statt, bei der es um Geschäftsmöglichkeiten in der Ukraine geht. Ist das angesichts des Risikos nicht eher ein Betteln um Solidarität?
Auf keinen Fall. Die Investitionen lohnen sich für beide Seiten. Nach dem Krieg kreieren wir den Staat der Zukunft. Selbst jetzt kann man schon sehen, wie gut wir bei der Digitalisierung im Vergleich mit anderen Ländern sind. Etwa bei öffentlichen Dienstleistungen. Die Ukraine kann in verschiedenen Bereichen herausragend sein.

Allerdings müssten Sie dafür das Korruptionsproblem endlich in den Griff bekommen …
Ja, das ist ein riesiges Problem, das zweitgrösste nach dem Krieg. Und dessen sind sich die Ukrainerinnen und Ukrainer auch bewusst. Wir haben eine starke Zivilgesellschaft, die sich sehr einsetzt. Wir haben Antikorruptionsbehörden. Spezielle Staatsanwälte. Und ein nationales Amt für die Korruptionsprävention, das alle Staatsbeamten und Staatsbeamtinnen überprüft. Und dann haben wir auch noch Extra-Gerichte. Ich finde es anderseits merkwürdig, dass einige Unternehmen noch immer in Russland geschäften. Ist das etwa kein korrupter Staat? Wir machen alles, was wir können, um die Korruption zu bekämpfen. Und nach unserem Sieg wird das noch mehr sein.

Eine letzte Frage: Haben Sie hier in Bern eigentlich auch mal den russischen Botschafter getroffen?
Nein, aber ich habe ihn einmal von Weitem gesehen.

Wie haben Sie reagiert?
Gar nicht, denn es war ein diplomatischer Anlass.

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