Im Tessin haben die Herbstferien noch nicht einmal begonnen, im Kanton Bern sind sie schon beinahe wieder vorbei. Klar ist: Wenn die Kinder zurück in die Schule kommen, drohen dort erneut grossflächige Corona-Ausbrüche. So war es schon nach den Sommerferien, wo besonders Balkan-Reisende das Virus in die Schweiz brachten. Blick trifft Tanja Stadler (40), Leiterin der wissenschaftlichen Covid-Taskforce, zum Interview. Stadler arbeitet zwar für die ETH Zürich, ihr Büro allerdings liegt in einem in die Jahre gekommenen Gebäude am Stadtrand von Basel. Während des Interviews steht das Fenster weit offen, den herbstlichen Temperaturen zum Trotz – Stichwort Aerosole.
1. Zertifikatspflicht, Impfquote und 50-Franken-Gutscheine
Blick: Frau Stadler, wann haben Sie Ihr Covid-Zertifikat zuletzt benutzt?
Tanja Stadler (überlegt einen Moment): Vor einigen Tagen im Restaurant.
Stört es Sie nicht?
Nein. Bei der momentanen Impfquote und der weiterhin hohen Spitalauslastung können wir nun mal nicht alle Massnahmen aufheben. Sonst laufen wir Gefahr, nicht allen Patientinnen und Patienten die nötige Behandlung anbieten zu können. Wir haben einfach zu wenig Immunität in der Bevölkerung. Dank dem Zertifikat können wir uns wieder mehr erlauben, ohne dass die Zahlen gleich in die Höhe schiessen.
Andere Länder oder Städte gehen von 3G runter auf 2G, etwa Österreich und Hamburg (D). Soll die Schweiz nachziehen?
Das ist eine der Optionen, falls sich die Lage verschärft. Bei Grossveranstaltungen kann es trotz 3G-Konzept zu grossen Ausbrüchen kommen, das haben wir im Sommer in den Niederlanden gesehen oder auch bei der EM. Tests sind eben nie zu 100 Prozent sicher. Je mehr Getestete vor Ort sind, desto grösser ist das Risiko von Ausbrüchen. Man hat verschiedene Optionen: Events ganz verbieten oder Ansteckungen und eine mögliche Überlastung des Spitalwesens in Kauf nehmen, oder eben die Regeln verschärfen. Das geht einerseits über Masken und Abstand oder andererseits über 2G statt 3G.
Der R-Wert liegt aktuell bei 0,85. Die Ansteckungen werden also weiter zurückgehen, oder?
Der R-Wert gibt an, wie viele Personen eine Corona-infizierte Person ansteckt. Dass er unter eins liegt, verschafft uns etwas Luft. Wir rechnen aber damit, dass er mit dem Herbstwetter hochgeht. Es sei denn, die Zahl der Kontakte nimmt ab oder die Impfquote steigt rasch. Wenn wir uns vermehrt drinnen treffen statt draussen, nehmen auch die Ansteckungen zu. Das haben wir schon letztes Jahr beobachtet.
Im Vergleich zum letzten Jahr haben wir aber die Impfung. Droht trotzdem ein Anstieg der Fallzahlen?
Erst 60 Prozent der Bevölkerung sind vollständig geimpft. Die Gruppe der Nichtgeimpften und Nichtgenesenen ist immer noch sehr gross. Delta ist derart aggressiv, dass sie alle früher oder später mit dem Virus in Kontakt kommen werden. Die Entscheidung ist: Impfung oder Infektion. Wir haben im Sommer gesehen, wie schnell es gehen kann, dass es in den Spitälern zu eng wird. Und das, obwohl die saisonalen Bedingungen für das Virus damals schlechter waren.
Kann die Schweiz bei der Impfquote noch mit Dänemark und Co. nachziehen?
Ja. Ich begrüsse es sehr, dass man die Impfung nun vermehrt zu den Leuten bringt. Das haben andere Länder schon getan. Die Schweiz hat den Ansatz verfolgt, dass wir die Impfung anbieten – und jeder sie sich holen kann. Wir müssen aber dafür sorgen, dass alle Menschen ganz einfachen Zugang zu Impfangeboten haben, zum Beispiel beim Einkaufen. Wenn man dann die bewusste Entscheidung trifft, sich nicht impfen zu lassen, müssen wir das akzeptieren.
Am Mittwoch entscheidet der Bundesrat über 50-Franken-Gutscheine für alle, die jemanden zur Impfung motivieren. Was halten Sie davon?
Es geht dabei um Crowdsourcing. Die ganze Bevölkerung kann mithelfen, die Impfquote zu steigern. Das Crowdsourcing an sich finde ich sehr sinnvoll. Wie man das dann belohnt, ist ein Entscheid der Politik.
Tanja Stadler ist Mathematikerin und Biostatikerin. In der Pandemie hat sie sich insbesondere mit ihren Berechnungen zum R-Wert einen Namen gemacht. Die ETH Zürich hat sie unlängst zur Professorin für computergestützte Evolution berufen. Die Corona-Taskforce leitet Stadler seit August 2021. Nach Matthias Egger und Martin Ackermann ist sie die erste Frau an der Spitze der Taskforce. Tanja Stadler hat in München (D) und Neuseeland studiert. Sie wohnt in Basel und ist Mutter zweier Kinder.
Tanja Stadler ist Mathematikerin und Biostatikerin. In der Pandemie hat sie sich insbesondere mit ihren Berechnungen zum R-Wert einen Namen gemacht. Die ETH Zürich hat sie unlängst zur Professorin für computergestützte Evolution berufen. Die Corona-Taskforce leitet Stadler seit August 2021. Nach Matthias Egger und Martin Ackermann ist sie die erste Frau an der Spitze der Taskforce. Tanja Stadler hat in München (D) und Neuseeland studiert. Sie wohnt in Basel und ist Mutter zweier Kinder.
2. Kinderimpfungen und Schulen
Kinder unter 12 können sich aktuell nicht impfen lassen. Kommt die Impfung für Kinder bald?
Es sieht gut aus! Biontech/Pfizer hat vorläufige Daten für Fünf- bis Elfjährige vorgelegt, die bald zur Zulassung eingereicht werden sollen. Das Virus ist für Kinder zwar deutlich weniger gefährlich als für Ältere. Dennoch gibt es auch bei Kindern schwere Verläufe und Long Covid. Daher sollten Kinder – und Eltern – die Wahl haben, ob sie sich impfen lassen möchten – genauso wie die Erwachsenen.
Sie sind selber zweifache Mutter. Werden Sie Ihre Kinder impfen lassen?
Selbstverständlich, nachdem es zu einer Zulassung und Empfehlung gekommen ist. Swissmedic und die Impfkommission prüfen ja sorgfältig: Sind die Impfstoffe sicher, wirksam und zu empfehlen? Auf dieses Urteil verlasse ich mich.
Kommt es an den Schulen nach den Herbstferien wieder zu grossen Ausbrüchen wie im Sommer?
Ich hoffe, es wird weniger schlimm. Die Leute sind sensibilisiert und es gibt beim Reisen zusätzliche Einschränkungen für Ungeimpfte. Die Viruszirkulation wird mit dem Jahreszeitenwechsel aber nicht ab-, sondern eher zunehmen.
Ist es also unumgänglich, dass wieder reihenweise Schulklassen in Quarantäne müssen, ein normaler Schulbetrieb kaum möglich ist?
Es gibt drei einfache Massnahmen dagegen: Testen, Masken und CO2-Sensoren. Trotzdem werden diese Massnahmen an den Schulen noch nicht flächendeckend umgesetzt. Dabei würden sie mithelfen, dass die Schulen offen bleiben und wir die Kinder nicht einfach durchseuchen.
Gerade Masken bei Primarschulkindern werden von vielen Kindern und Eltern aber als einschneidend empfunden.
Wenn nicht Pandemie wäre, würden wir alle lieber keine Masken tragen, die Erwachsenen eingeschlossen. Die Masken sind aber das geringere Übel als Schulschliessungen und Quarantäne. In vielen europäischen Ländern gilt die Maskenpflicht ab sechs Jahren. Andernorts ab zwölf. Wo genau die Grenze liegt, ist ein politischer Entscheid. Wichtig ist, dass man sich festlegt und dann alle gemeinsam an einem Strick ziehen.
Fakt ist stattdessen ein föderalistischer Flickenteppich. Handeln Kantone ohne Massentests, CO2-Sensoren und Maskenpflicht an den Schulen unverantwortlich?
Der Föderalismus ist an sich eine gute Sache. Aber das Virus macht eben nicht an der Kantonsgrenze Halt. Ich hoffe einfach, dass die Kantone ihr Bestes tun. Und aus wissenschaftlicher Sicht ist belegt, dass Testen, Maskentragen oder CO2-Sensoren sehr wirksam sind.
3. Weihnachten und Skisaison
Letzten Winter waren in einigen Kantonen die Restaurant-Terrassen in den Skigebieten offen, andernorts nicht. In diesem Jahr steht eine Zertifikatspflicht für die Bergbahnen zur Debatte. Eine gute Idee?
Aus wissenschaftlicher Sicht macht sie Sinn, wenn der Impffortschritt nicht ausreicht, um den Druck auf das Gesundheitssystem zu reduzieren. Alternativ könnte man auch mit Hygienekonzepten arbeiten, Stichwort Maskenpflicht.
Was denn lieber, Masken in der Bergbahn oder Zertifikate?
Es gibt kein richtig oder falsch, es sind einfach unterschiedliche Ansätze. Stellen Sie sich viele Scheiben eines löchrigen Schweizer Käses vor. Jede Scheibe ist eine Massnahme. Jede Massnahme hat also Lücken. Legt man die Käsescheiben aber übereinander, sind die Löcher gestopft.
Können wir dieses Jahr normal Weihnachten feiern?
Für Geimpfte und Genesene sieht es gut aus. Aber genaue Vorhersagen sind in der Pandemie schwierig. Letztes Jahr zum Beispiel kam pünktlich zu Weihnachten die erste besorgniserregende Variante, Alpha. Nun haben wir Delta. Bis Weihnachten wird es hoffentlich keine neue Variante geben, die der Immunabwehr durch die Impfung komplett ausweicht. Die grosse Masse an Ungeimpften bleibt aber ein Risiko. Wenn sie sich schnell infizieren und sich die Spitäler füllen, wird das auch für Geimpfte zum Problem.
Zum Beispiel für die, die sich beim Skifahren ein Bein brechen. Droht zu Weihnachten eine Überlastung der Spitäler?
Das muss nicht passieren. Wir haben es selber in der Hand. Aber wir sind bei den Impfungen spät dran, der Herbst startet. Das Problem ist: Die Spitäler sind schon relativ voll. Das war letztes Jahr zu Beginn der zweiten Welle anders.
Warum das? Die Zahlen sinken seit Wochen.
Aber es liegen nun vor allem 50-Jährige auf den Intensivstationen. Sie haben grössere Überlebenschancen als die Patienten in den früheren Wellen. Das ist erfreulich – es führt aber dazu, dass sie lange auf der Intensivstation bleiben, bis sie sich ganz erholt haben.
4. Militante Corona-Kritiker
Sie haben mal in einem Interview gesagt, dass Sie keine Pakete ohne Absender mehr öffnen. Warum?
Ich erhalte viel mehr Post als je zuvor. Teilweise sind die Zuschriften positiv, teilweise kritisch. Und teilweise sind es Drohungen. Die gebe ich weiter an die Profis.
Sie stehen seit anderthalb Jahren im Rampenlicht. Gewöhnt man sich jemals an so etwas?
Ich habe gelernt, mich besser abzugrenzen. Anfangs ist es mir nähergegangen. Ich dachte schnell, ich hätte etwas falsch kommuniziert. Aber dann sieht man, dass auch Kolleginnen und Kollegen solche Kritik erhalten. Und deren Arbeit ist sehr gut! Aber es gibt eine rote Linie – und das sind Drohungen. Wenn die überschritten wird, gilt es zu handeln.
Lohnt es sich überhaupt, mit diesen Leuten zu diskutieren?
Ich diskutiere gerne auf der Grundlage des wissenschaftlichen Konsenses. Aber noch zu diskutieren, ob es das Virus überhaupt gibt oder nicht, hat tatsächlich keinen Sinn für mich. Auf Verschwörungstheoretiker gehe ich nicht ein.
Sie arbeiten gratis für die Corona-Taskforce. Ist es das wert?
Wir erleben gerade eine der grössten Krisen unserer Gesellschaft. Das Virus hat alles auf den Kopf gestellt. Als Wissenschaftlerin beschäftige ich mich seit Jahren mit Infektionskrankheiten. Ich trage nun meinen Teil dazu bei, dieses Problem zu lösen. Das spornt mich an.