Am Freitag kurz vor elf besteigt Hans Ruh in Zürich den Zug nach Bern. Es ist sein 86. Geburtstag. Doch der emeritierte Professor und ehemalige Direktor des Instituts für Sozialethik an der Uni Zürich will nicht feiern, sondern demonstrieren: Bis zur Ankunft in Bern hält Hans Ruh ein Zug-WC besetzt.
Es geht um die Reinigungstruppe der SBB, rund 500 Mitarbeiter. Und um die Erschwerniszulage von 1.45 Franken pro Stunde, die sie etwa für die Reinigung der Toiletten erhalten haben – sie ist ihnen gerade gestrichen worden: «Pro Jahr geht es also um rund 200'000 Franken», sagt Ruh. «Und das in einem Betrieb, dessen Chef über eine Million verdient.» Es sei bezeichnend für die heutige Zeit, dass man die untersten Schichten so ungerecht behandle: «Sie werden nicht nur ökonomisch abgehängt, sondern würdelos behandelt und erhalten keine Anerkennung.»
Mit Zwingli gegen die SBB-Spitze
Ruh trägt für seine Aktion einen Zwingli-Hut. Den hat er sich vom Pfarrer des Zürcher Grossmünsters ausgeliehen. «Das war Zwinglis Markenzeichen», sagt der Herr Professor. Denn: «Es hat mir den Hut gelupft, als ich davon erfahren habe, dass die SBB der WC-Putzequipe die Zulage streichen wollen!»
Bei sich hat der aktive Ethiker auch eine Zwingli-Bibel. Aus dem Gleichnis vom Gericht des Menschensohnes über die Völker will er lesen, in dem Jesus sagt: «Was ihr für einen meiner geringsten Brüder getan habt, das habt ihr mir getan.»
Fahrgäste reagieren zurückhaltend
Während der Fahrt nach Bern regt sich eine ältere Frau über die Aktion auf: «Die Asylanten sollen ruhig für wenig Geld arbeiten!» Als der Kondukteur kommt, besteht er nicht auf Öffnung des WC, fotografiert aber das kleine Plakat, das Ruh an die Tür geklebt hat. «Ich empöre mich!», steht darauf.
Die anderen Fahrgäste reagieren zurückhaltend: «Man will nichts mit der Aktion zu tun haben», beschreibt Ruh seinen Eindruck. Dann gratuliert ihm eine Frau zu seiner Aktion.
Ruh ist empört, weil 4000 Franken pro Monat in der Schweiz prekäre Verhältnisse bedeuten. «Wer mit diesem Einkommen eine Familie durchbringen muss, hat ökonomische Probleme», sagt er – mit Wohnungsmiete, Kindern, Krankenkassenprämien, Bildungsausgaben und solchen für die Ferien. Sozialpsychologische Schwierigkeiten kämen hinzu. «Diese Menschen fragen sich: Bin ich ein würdiges Mitglied der Gesellschaft?»
Liberale Demokratie in Gefahr?
Von den Ökonomen fordert Ruh, endlich alternative Szenarien zu entwickeln. Er denkt etwa an flachere Einkommensverteilung, obligatorische Sozialdienste und Vereinheitlichung der gemeindlichen Steuersätze. «Wir müssen ein System schaffen, in dem sich Menschen stärker anerkannt und gleichberechtigt fühlen. Es muss ein würdiges Leben für alle möglich sein.»
Hans Ruh sieht die liberale Demokratie in Gefahr: «Durch politisch Rechte und ein wenig durch Linksradikale», sagt er. «Wir müssen die Gesellschaft für jene öffnen, die abgehängt sind.» Auch, damit diese Menschen ihr Heil nicht mehr bei «starken Männern» suchen.
Für Hans Ruh ist klar: SBB-Chef Andreas Meyer (58) muss die Reinigungsequipe besuchen, die Zulage wieder einführen und sich persönlich für den Fauxpas entschuldigen. Bis dahin will der Ethiklehrer keine Ruhe geben, sondern sich jeden Freitag im Zug nach Bern auf dem WC einschliessen.