Medikament als letzte Hoffnung für todkranke Babys
Hunderte Familien wegen Novartis zu Crowdfunding gezwungen

Sie haben ein krankes Baby, das kaum den zweiten Geburtstag überlebt. Die neue Gentherapie von Novartis könnte sie retten, doch sie kostet über 2 Millionen Franken. Wie sich Hunderte Familien zu Crowdfunding gezwungen sehen, zeigt das Beispiel der siebenmonatigen Julia.
Publiziert: 11.02.2020 um 00:53 Uhr
|
Aktualisiert: 08.07.2020 um 20:31 Uhr
Julia (sieben Monate) aus Polen leidet seit Geburt unter der Spinalen Muskelatrophie (SMA) Typ 1. Mit der Spendenaktion auf der Plattform Siepomaga soll die milionenteure Novartis-Therapie finanziert werden.
Foto: siepomaga.pl
1/12

«Ohne teure Medizin werde die kleine Julia sterben», schreiben die Eltern auf der Fundraising-Seite für ihre sieben Monate alte Julia aus Polen. Darunter das Foto des Babys mit einem Atemschlauch. Es leidet unter der unheilbaren spinalen Muskelkrankheit SMA 1.

Für die Eltern Joanna (23) und Emanuel (24) Rowczynska ist das Crowdfunding die einzige Chance, um die erste bisher wirksame Medizin dagegen finanzieren zu können. Novartis hat die Zolgensma-Gentherapie entwickelt. Letzten Sommer wurde sie in den USA erstmals für den Markt zugelassen.

Dem kleinen Mädchen geht es zunehmend schlechter. Ihre Muskeln sind zu schwach, um den Schleim in den Atemwegen abzuhusten. Ein Schlauch muss ihn absaugen, damit sie überhaupt atmen kann. Ihre Eltern illustrieren die dramatische Situation mit Fotos und Videos auf der Spendenplattform. Julias Leben hängt davon ab, ob sie die über zwei Millionen Franken für die teuerste Spritze der Welt zusammenkriegen. Unbehandelt sterben 90 Prozent der Kinder mit dem Typ SMA 1 vor dem zweiten Geburtstag.

Beim Geldsammeln geht es um Leben und Tod

Während Julia seit Mitte Dezember auf der Intensivstation im polnischen Lodz liegt, setzt Julias Grosscousine Synthia Grundmann (28) in Deutschland alle Hebel in Bewegung. Veranstaltet Benefiz-Anlässe, regt Freunde und Bekannte zu Fundraising-Aktionen an. Letzte Woche hat sie zum Beispiel in ihrem Dorf in Jöllenbeck (D) einen Flohmarkt organisiert und mit den Verkäufen fast 3000 Euro zusammengekriegt.

Um an die Novartis-Therapie zu kommen, die Julia retten könnte, gibt es neben dem Crowdfundig eigentlich noch die Option, heuer an der Novartis-Verlosung von 100 Therapien teilzunehmen. Doch nicht für Julia. Julias Arzt habe sie nicht angemeldet, sagt Grundmann dem BLICK. «Die Ärzte in Polen tun nur das Nötigste», erklärt sie. Es sei wahrscheinlicher, das Geld mit Sammeln zusammenzukriegen, als das grosse Los zu ziehen. Ihr fehlten gestern noch rund 155'000 Euro.

Die Berichte, Fotos und Videos von Julia und weiteren Babys auf der Webseite der zertifizierten polnischen Stiftung Siepomaga – «man hilft sich» – sind erschütternd. Bisher kam über die Plattform für drei Kinder genügend Geld zusammen, sagt Siepomaga-Sprecherin Monika Filipowicz. Sie werden alle in den USA behandelt, da die Therapie in Polen nicht erhältlich ist.

Drastisches Entgegenkommen von Novartis erwartet

Seit das Novartis-Mittel erstmals zugelassen wurde, sehen sich Hunderte Eltern von SMA-Babys in die Fundraiser-Rolle gezwungen. Allein auf der international bekanntesten Plattform, US Gofundme, gibt es 109 Kampagnen für Babys, deren letzte Hoffnung Zolgensma ist.

Für Daniel Tapernoux von der Schweizerischen Patientenorganisation (SPO) ist es zwar nachvollziehbar, dass Patienten oder deren Angehörige über Internetplattformen Spenden sammeln. «Aber Crowdfundig ist kein passendes Finanzierungsinstrument», sagt der Arzt.

«Mit der Einführung der Kranken- und Invalidenversicherung wollten wir weg vom System, in dem jeder Einzelne für Medikamente etc. aufkommen musste», führt Tapernoux aus. Wenn das wieder notwendig würde, wäre das ein gewaltiger Rückschritt.

Die Finanzierung solcher Therapien sollte über das Sozialversicherungssystem laufen. Tapernoux erwartet ein drastisches Entgegenkommen der Pharmakonzerne, damit die Preise in einen bezahlbaren Bereich kämen. «In der heutigen Situation nehmen es die Firmen in Kauf, dass Patienten lebenswichtige Medikamente rein aus Kostengründen nicht erhalten», ergänzt er.

Ein Baby hatte Glück

Auch Jana Brandt (30) aus Sebnitz (D), die Mutter des inzwischen einmonatigen John, hat eine Kampagne über Gofundme gestartet. Sie hatte letzten Oktober 26'000 Euro zusammen, als ihre deutsche Krankenkasse entschied, die Kosten für Zolgensma zu übernehmen – nach Intervention eines Anwalts.

Im Dezember bekam John die Spritze. In seinem Fall erwies sie sich tatsächlich als Wundermittel. Dem Kleinen gehe es gut, sagt die hörbar erleichterte Mutter dem BLICK am Telefon. Sein Strampeln, seine Bewegungen – eine grosse Freude.

Auf die Handvoll Babys, denen es dank der Therapie besser geht, kommen unzählige, deren Eltern hoffen und bangen. Dass sie ihre Hoffnungen unter anderem auf ein Los setzen, findet Ethikprofessorin Nikola Biller-Andorno (48) unhaltbar. Hier werde mit dem Leben der Kranken gespielt.

Auch Arzt Tapernoux bezeichnet die Vergabe per Zufalllos als sehr heikel. Er hebt aber hervor, dass es schwierig sei, ein besseres Modell für eine gerechtere Vergabe zu entwickeln – auch weil Novartis nur eine begrenzte Zahl der Therapie entwickeln kann.

Novartis hält nicht mehr an Lotterie fest

Der Sammelstress von Julias Verwandten ist immens. Das Mädchen leidet. Je früher es die Therapie erhält, desto besser wirkt sie. Für Tapernoux ist klar, bei der Auswahl der Begünstigten müssten medizinische Parameter berücksichtigt werden wie bei Organtransplantationen.

Novartis zeigt sich nach der grossen Kritik an der Lotterie erstmals offen für eine andere Lösung. «Wir sind offen für Anpassungen des Systems, aber es wurde noch keine Entscheidung getroffen», sagt Novartis-Sprecher Satoshi Sugimoto.

Auf Julias Crowdfunding-Seite tröpfeln die Spenden rein – 5 Euro, 10 Euro, 5 Euro ... Ein Rennen gegen die Zeit.

Darum ist es so teuer

Die neuen Gentherapien, die seit einigen Jahren auf den Markt kommen, bringen die Gesundheits- und Sozialsysteme an den Anschlag. Bei Kosten von mehreren Hunderttausend Franken verweigern Schweizer Krankenversicherungen vermehrt die Deckung solcher Therapien. Mit über zwei Millionen Franken pro Therapie sprengt Novartis' Zolgensma jeglichen Rahmen. Es gilt als teuerstes Medikament der Welt und hat in der Schweiz noch keine Marktzulassung.

Es wird als Einmaldosis gegeben. Das Prinzip: Zolgensma repariert die fehlerhafte DNA, die zur Muskelkrankheit führt. Das defekte genetische Material in den Zellen wird durch die Kopie des richtigen Gens ersetzt. Für den Transport dienen Viren. Der Herstellungsprozess dauert bis zu 30 Tage und wird für jedes Kind individuell dosiert hergestellt. Dafür war jahrelange Forschung und Entwicklung notwendig. Da die Therapie im Schnellverfahren zugelassen wurde, fehlen allerdings Daten über Langzeitwirkung und -risiken.

Die neuen Gentherapien, die seit einigen Jahren auf den Markt kommen, bringen die Gesundheits- und Sozialsysteme an den Anschlag. Bei Kosten von mehreren Hunderttausend Franken verweigern Schweizer Krankenversicherungen vermehrt die Deckung solcher Therapien. Mit über zwei Millionen Franken pro Therapie sprengt Novartis' Zolgensma jeglichen Rahmen. Es gilt als teuerstes Medikament der Welt und hat in der Schweiz noch keine Marktzulassung.

Es wird als Einmaldosis gegeben. Das Prinzip: Zolgensma repariert die fehlerhafte DNA, die zur Muskelkrankheit führt. Das defekte genetische Material in den Zellen wird durch die Kopie des richtigen Gens ersetzt. Für den Transport dienen Viren. Der Herstellungsprozess dauert bis zu 30 Tage und wird für jedes Kind individuell dosiert hergestellt. Dafür war jahrelange Forschung und Entwicklung notwendig. Da die Therapie im Schnellverfahren zugelassen wurde, fehlen allerdings Daten über Langzeitwirkung und -risiken.

Mehr
Crowdfunding stopft Lücken im Gesundheitssystem

Die grösste internationale Online-Fundraisingplattform Gofundme aus den USA ist seit Herbst 2018 in der Schweiz aktiv. Privatpersonen können für Privatpersonen, die Hilfe brauchen, eine Kampagne starten. «Wir wollen dort einspringen, wo Versicherungen Grenzen gesetzt sind», sagt Ilka Franzmann von Gofundme. Meistens gehe es um lebensrettende Medikamente, die in der Schweiz nicht zugelassen seien, von den Krankenkassen nicht bezahlt oder nicht vertrieben würden, wie aktuell Zolgensma.

Für das teuerste Medikament der Welt gegen die unheilbare Muskelkrankheit SMA beobachtet Gofundme eine deutliche Zunahme von Kampagnen in Europa. In der Schweiz kommen jährlich eine Handvoll Kinder mit der Erbkrankheit auf die Welt.

Erstmals bekannt wurde das Crowdfunding für Medizin hierzulande durch die Aktion der schwerkranken Zürcherin Bettina Rimensberger (31). Mit den gesammelten 600'000 Franken konnte sie sich ein Jahr lang in Deutschland mit einem teuren Medikament behandeln lassen. Mit 1,2 Millionen noch mehr gesammelt in der Schweiz wurde für das todkranke Luzerner Baby Valeria Schenkel, über welches BLICK berichtete. Das Mädchen leidet an einer seltenen Genmutation. Mit dem Spendengeld wird nun an einer US-Universität extra ein Medikament für das Mädchen entwickelt.

Die grösste internationale Online-Fundraisingplattform Gofundme aus den USA ist seit Herbst 2018 in der Schweiz aktiv. Privatpersonen können für Privatpersonen, die Hilfe brauchen, eine Kampagne starten. «Wir wollen dort einspringen, wo Versicherungen Grenzen gesetzt sind», sagt Ilka Franzmann von Gofundme. Meistens gehe es um lebensrettende Medikamente, die in der Schweiz nicht zugelassen seien, von den Krankenkassen nicht bezahlt oder nicht vertrieben würden, wie aktuell Zolgensma.

Für das teuerste Medikament der Welt gegen die unheilbare Muskelkrankheit SMA beobachtet Gofundme eine deutliche Zunahme von Kampagnen in Europa. In der Schweiz kommen jährlich eine Handvoll Kinder mit der Erbkrankheit auf die Welt.

Erstmals bekannt wurde das Crowdfunding für Medizin hierzulande durch die Aktion der schwerkranken Zürcherin Bettina Rimensberger (31). Mit den gesammelten 600'000 Franken konnte sie sich ein Jahr lang in Deutschland mit einem teuren Medikament behandeln lassen. Mit 1,2 Millionen noch mehr gesammelt in der Schweiz wurde für das todkranke Luzerner Baby Valeria Schenkel, über welches BLICK berichtete. Das Mädchen leidet an einer seltenen Genmutation. Mit dem Spendengeld wird nun an einer US-Universität extra ein Medikament für das Mädchen entwickelt.

Mehr
Fehler gefunden? Jetzt melden
Was sagst du dazu?
Externe Inhalte
Möchtest du diesen ergänzenden Inhalt (Tweet, Instagram etc.) sehen? Falls du damit einverstanden bist, dass Cookies gesetzt und dadurch Daten an externe Anbieter übermittelt werden, kannst du alle Cookies zulassen und externe Inhalte direkt anzeigen lassen.