Margrit Stamm (67) über neue Lehrlingsstudie der Uni Freiburg
«Stiftinnen lassen sich mehr stressen als Stifte»

Die emeritierte Bildungsforscherin Margrit Stamm (67) kommentiert die überraschenden Studien-Ergebnisse zur geschlechtsspezifischen Talentförderung in der beruflichen Grundbildung.
Publiziert: 05.12.2017 um 11:48 Uhr
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Aktualisiert: 05.10.2018 um 05:22 Uhr
«Lehrfrauen sind deutlich selbstkritischerals junge Männer»: Margrit Stamm.
Foto: Marco Zanoni / Lunax
Interview: Ulrich Rotzinger

BLICK: Frau Stamm, Sie sprechen von brisanten Studienresultaten. Mich überrascht, dass nicht nur Lehrmeister, sondern auch Berufsbildnerinnen Stiftinnen schlechter beurteilen. Wie kommt das?
Margrit Stamm: Diese Tatsache hat mich sehr erstaunt. Eine Erklärungsmöglichkeit wäre, dass Ausbildnerinnen sich in der Berufsbildung oft durchsetzen müssen, weil sie zahlenmässig den Männern unterlegen sind. Es braucht Präsenz und eine gewisse Ich-Stärke. Die strengere Beurteilung der Lehrfrauen könnte auch ein Ausdruck dieses Geschlechterverhältnisses in der Berufsbildung sein. 

Ist es nicht so, dass Ausbildnerinnen vermehrt Frauen in der Lehre fördern?
Ausbildnerinnen achten schon darauf, dass Frauen sich in der Berufsbildung entwickeln können. Ich denke aber, dass eine herausfordernde Unterstützung eher fehlt. Man muss die jungen Frauen aus dem Busch klopfen.

Die jungen Frauen aus dem Busch klopfen?
Falsch wäre, aus unserer Studie zu folgern, dass weibliche Talente einfach besser beurteilt werden müssten. Unsere Studie zeigt: Lehrfrauen werden nicht gezielt in ihren Persönlichkeitsmerkmalen, vor allem im Stressverhalten, unterstützt. Hier müsste man ansetzen. Wir belegen, dass Lehrfrauen sich mehr als Männer stressen lassen und dass sie sehr perfektionistisch sind.

Perfektionismus kann ungesund sein.
Das ist so. Zudem sind Lehrfrauen auch deutlich selbstkritischer als die jungen Männer. Diese haben ausgeprägter das Gefühl, begabt zu sein. Die jungen Frauen fühlen sich dagegen unter Druck, sich anstrengen zu müssen, damit sie überhaupt gut sind. Hier bedarf es einer gezielten Förderung der weiblichen Persönlichkeiten.

Hohe, gar überdurchschnittliche weibliche Begabung zahlt sich gerade in Frauendomänen wie Sozial- und Gesundheitsberufen nicht aus.
Eine Erklärung wäre, dass junge Männer in diesem Ausbildungssegment als besondere Pflänzchen wahrgenommen werden. Wenn man schon mal einen hat, der diesen von Frauen dominierten Beruf erlernen will, dann versucht man, ihn wie einen Brillanten zu schützen und zu polieren. Vielleicht werden Männer deshalb tendenziell besser beurteilt. 

Sind Männer von Berufsbildnerinnen nicht einfacher zu handlen als junge Frauen?
Es ist nicht immer einfach für Frauen, wenn sie fast ausschliesslich junge Frauen ausbilden müssen. Emotionen spielen eine grosse Rolle. Bei Männern spielt mehr das Kumpelhafte, Wettbewerbsorientierte eine Rolle. Darum sagen viele in der Ausbildung tätige Frauen, dass sie am liebsten gemischte Teams haben.

Wie sieht das bei Ihnen aus?
Ich selbst finde es schwierig, in reinen Frauenteams zu arbeiten. Aber ich bin auch schon deutlich älter als die Frauen in meinen Teams. Wenn der Altersunterschied nicht gross ist, wird es schwieriger.

Dennoch dominieren Männer in der Berufsbildung.
Ja, das ist heute noch so. Wenn ich Vorträge in der Berufsbildung halte, besteht das Publikum meist aus 70 Prozent Männern. Bei Berufen im frühkindlichen Bereich beträgt der Frauenanteil 95 Prozent. Berufsbildung hat sicher noch den männlichen Touch, den ich per se nicht verurteile. Es braucht aber mehr Sensibilität und selbstkritisches Verhalten.

Die Studienresultate liegen jetzt auf dem Tisch. Was fordern Sie?
Es reicht nicht, lediglich mehr Talentförderung für Frauen zu fordern. Ein Girlsday pro Jahr ist ungenügend. Es braucht eine klare Strategie, damit junge Frauen ihre Talente mehr ausschöpfen können. Sehr wichtig wäre, dass Betriebe und Berufsfachschulen Berufsbildnerinnen und -Bildner im Tandem die jungen Menschen beurteilen. Die Beurteilung würde so objektiver und geschlechtsneutraler.

Sie fordern eine neue Perspektive Berufsbildung. Wie kriegt man das durch?
Es wäre wichtig, wenn das Staatssekretariat für Bildung, Forschung und Innovation SBFI die Studienresultate aufnehmen und Benchmarks setzen würde. Warum nicht auf die Berufsmeisterschaften Swiss-Skills im Herbst 2018 einen Anfang machen?

Warum gerade bei den Swiss-Skills?
Die Berufsmeisterschaften sind eine ausgezeichnete Plattform zur Förderung der Talente. Wichtig wäre es, auf diesen Anlass hin bestimmte Standards festzulegen. Man müsste zumindest erreichen, dass mehr Frauen, die sich in der Ausbildung besonders hervorgetan haben, an den Swiss-Skills tatsächlich teilnehmen.

Aber wir haben doch eine Bäckerin, die eben erst Berufsweltmeisterin geworden ist – eine talentierte junge Frau. Was wollen Sie eigentlich?
Ja genau. Aber sie ist ein Einzelfall. Viele andere sind auf der Strecke geblieben. An den Berufs- und Weltmeisterschaften sind fast immer zwei Drittel Männer. Das Ungleichgewicht dort ist markant.

Sie fordern eine Quote für Lehrfrauen?
Ich bin grundsätzlich gegen Frauenquoten. Ich selbst hätte nie eine Quotenfrau an der Uni Freiburg sein wollen. Ich schlage aber vor, das Verhältnis von Männern und Frauen an der Leistungsspitze zu überdenken und zu versuchen, es egalitärer zu gestalten. Die Talentförderung muss weiblicher werden. Das ist eine grosse Herausforderung.

Die Digitalisierung wird die Berufsbildung ebenfalls fordern?
In der Tat. Ich glaube aber, dass Ausbildner nie durch einen Computer oder Roboter ersetzt werden können. Die zwischenmenschliche Ebene braucht es immer. Auch bei der Digitalisierung gibt es Tendenzen, dass junge Frauen gegenüber Männern benachteiligt werden.

Zum Beispiel?
Der erste Digitaltag am 21. November war eine Männerangelegenheit. Ausser Bundesrätin Doris Leuthard und den Moderatorinnen ist kaum eine Frau aufgetreten. Wir müssen aufpassen, dass die Digitalisierung nicht wieder in Männerhände kommt. Junge Menschen lernen am Modell. Und wenn Digitalisierung als Männerdomäne vorgelebt wird, dann baut man wieder grosse Hürden auf.

+++

Margrit Stamm war bis 2012 Lehrstuhlinhaberin für Pädagogische Psychologie und Erziehungswissenschaft an der Universität Freiburg (CH). Seit 2013 konzentriert sie sich auf den Aufbau des Forschungsinstituts Swiss Education. Es hat den Sitz in Bern und ist in der nationalen und internationalen Bildungsforschung in verschiedenen Ländern tätig. An der Universität Freiburg betreut die emeritierte Bildungsforscherin weiterhin Doktorandinnen und Doktoranden. Stamm ist verheiratet und hat zwei erwachsene Kinder.

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