Lukas Bärfuss über die Digitalisierung und deren Ausschusskultur
Für digitale Innovationen bezahlt immer jemand einen hohen Preis

Der unablässige Wettbewerb im digitalen Zeitalter verläuft ins Leere, die Verbesserungen sind für 
die Menschen kaum noch spürbar – 
im Gegenteil: Sie führen zu Ausschussware, die den ganzen Planeten belasten. 
Nirgends wird das deutlicher als bei den Apple-Produkten.
Publiziert: 20.07.2019 um 15:17 Uhr
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Aktualisiert: 21.07.2019 um 10:32 Uhr
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Der Büchnerpreisträger Lukas Bärfuss schreibt in seinem Essay über die Innovationen der digitalen Industrie, die aber vor allem eines bringen: Ausschuss.
Foto: Philippe Rossier
Lukas Bärfuss

Die Urlaubszeit ist auf ihrem Höhepunkt, der Sommer hat seinen Zenit bereits überschritten, aber es gibt keinen Grund, deswegen in Kummer und Trübsinn zu ver fallen. Der kommende Herbst verheisst Grosses. Wir dürfen uns auf Innova­tionen freuen, die unser Leben ein­facher, abwechslungsreicher und vor ­allem unterhaltsamer machen. Apple bringt nämlich das neuste Betriebs­system für das iPhone auf den Markt.

Es nennt sich iOS 13, und neben vielen kleinen Verbesserungen, etwa neuen Lichteffekten für die Porträt­kamera, mehr Ordnung im Mail-Postfach oder einer Online-Ausweisfunk­tion, dürfen wir uns auf eine bahn­brechende Erfindung freuen: Das neue Betriebssystem wird uns mit Memojis beglücken.

Man erinnert sich: Es begann vor ­einigen Jahren mit den Emojis, kleinen Bildern, die man in die Kurznachrichten einfügen konnte, um ohne Worte seinen Gefühlszustand auszudrücken. Die nächste Entwicklungsstufe waren die Animojis, nichts anderes als animierte Emojis. Mit ihnen wurde es­ möglich, Stimmungswechsel darzu­stellen. Fanden wir nicht schon da, dass sich die technologische Entwicklung endlich ­unserem wahren Sein näherte, unsere komplexen Persönlichkeiten immer besser darzustellen vermochte?

Smartphone-Killerfeatures mit einer Kehrseite

Und nun also der nächste Schritt auf dem endlosen Weg zur Vollkommenheit, die Memojis. Sie sind nicht nur animiert, nein, sie sind personalisiert. Man schaltet die Kamera ein und – oh ­Wunder! – Tiere, zum Beispiel Schweinchen und Hundewelpen, übernehmen meine Mimik. Bin ich verblüfft, reisst das ­Ferkel die Augen auf, bin ich betrübt, reagiert der Welpe mit dem ­bekannten Hundeblick.

Der Sommer ist eine schlechte Zeit für Miesmacherei, die Urlaubszeit ist schliesslich zur Entspannung da – und trotzdem muss es gesagt sein: Wie jede Innovation hat auch dieses Killerfeature eine Kehrseite. Und diese Kehrseite betrifft 300 Millionen Konsumenten, besser gesagt, die ­gesamte Menschheit, oder, um es noch präziser auszudrücken: iOS 13 schafft selbst ­jenen Generationen ein Problem, die noch gar nicht geboren wurden.

Das liegt an der Methode, mit der diese Innovationen angetrieben und erst möglich werden. Es ist ein Verfahren, das der gewöhnliche Mensch in aller Regel zu vermeiden versucht. Es ist die absicht­liche, einkalkulierte und provozierte Abweichung von der Regel, oder, um es einfacher ausdrücken, der Fehler.

Um in einem Wettbewerb zu bestehen, müssen Fehler gemacht werden. Genau in dieser Logik erläuterte vor kurzer Zeit ein erfolgreicher Uhren­industrieller die Fehlerkultur in seinen Betrieben. Für kleine Fehler würden seine Mitarbeitenden eine kleine, für einen grossen Fehler eine grosse ­Belohnung erhalten.

Das mutet im ersten Augenblick ­kontraintuitiv, sogar widersinnig an. Welches Interesse kann ein Arbeit­geber haben, dass seine Angestellten Fehler begehen? Schliesslich, und das bekennt dieser ­Unternehmer ebenfalls, will er stets einen höheren Profit erzielen, und jeder Fehler verursacht doch ohne Zweifel Kosten. Ist dieser Mann also verrückt geworden? Wenn man die sprudelnden ­Gewinne seines Konzerns in den letzten Jahren betrachtet, muss man diese Frage eindeutig mit Nein beantworten.

Kluge Unternehmer fördern Abweichungen von der Regel

Tatsächlich handelt dieser Mann in einer gewissen Logik völlig rational. Diese Logik heisst Wettbewerb. Wer im Wettbewerb bestehen will, muss unablässig Inno­vationen auf den Markt bringen. Und deshalb muss er Fehler provo- zieren. Dies hat er von der Evolution gelernt, dieser ultimative Wettbewerb, in dem nur dich Tüchtigsten überleben. Evolution wird erst durch ­Fehler möglich, und der Name für diese Fehler lautet hier Mutation.

Es gibt zwei Arten von Zellteilung, die Mitose und die Meiose. Bei der Mitose wird der Chromosomensatz einfach verdoppelt, die beiden neuen Zellen sind perfekte Klone. Im Falle der Meiose hingegen wird die Geninformation geteilt, jede neue Zelle erhält eine Hälfte. Dies ist für die geschlecht­liche Fortpflanzung nötig, denn sonst würde der Chromosomensatz mit jeder Generation dupliziert.

Sowohl bei der Mitose als auch der Meiose können sich Fehler ­einschleichen. Im ersten Fall ist nur das ­Individuum davon betroffen. Es ­erkrankt, zum Beispiel an Krebs, aber mit seinem Tod verschwindet auch der Fehler. Ganz anders bei der Meiose. Jeder Fehler, der hier auftritt, hat nicht bloss Folgen für das betreffende ­In­dividuum, die Mutation wird an ­sämt­liche Nachkommen weitergegeben. ­Meistens sind diese Folgen äusserst ­unangenehm.

Dann nennt man sie Erbkrankheiten, aber in sehr seltenen ­Fällen ermöglichen diese Fehler der ­Population eine bessere Anpassung an die Umwelt – und damit einen evolutionären Vorteil. Mit einem etwas längeren Hals kommt man leichter an die Blätter, eine zu­sätzliche Feder bringt Vorteile in der ­Aerodynamik, und ein abgespreizter Daumen greift besser. Wer einen Vorteil besitzt, vermehrt sich leichter, der Vorteil wird weitergegeben, und wer nicht über ihn verfügt, scheidet über kurz oder lang aus dem Rennen aus. Denn nur die Tüchtigsten werden in diesem gnadenlosen Wettbewerb überleben.

Was für die Evolution der Fall ist, gilt ebenso für den wirtschaftlichen Wettbewerb. Und deshalb handelt der Unternehmer klug, wenn er Abweichungen von der Regel fördert. Denn unter neunundneunzig Fehlern befindet sich vielleicht jener Vorteil, der seinem Unternehmen den ent­scheidenden ­Vorteil verschafft. Und die Ressourcen, die bei den neunundneunzig fehler­haften Versuchen aufgewendet­ wurden? Die Arbeits- und Lebenszeit der Mit­arbeitenden? Das Material? Die Energie? Alles verloren. Der Unternehmer wird eine Kalkulation erstellen, und solange die Kosten für den Ausschuss nicht höher sind als der Gewinn, der mit der Innovation erreicht wird, geht seine Rechnung auf.

Neue iPhone-Modelle sind nicht wesentlich besser als ältere

Aber leider nur seine. Es entstehen dabei nämlich Kosten, für die er nicht einstehen muss, die er externalisiert. So müssen die Unternehmen immer noch nicht vollumfänglich für die Umweltschäden aufkommen, die bei der Produktion entstehen. Und gar nicht zu reden von den zukünftigen Generationen, denen die aufgewendeten Ressourcen nicht zur Verfügung stehen werden. Diese Kosten werden niemals in Rechnung gestellt, und nur deshalb kann er sich seine Fehler leisten. Und solange die Regeln in diesem Wett­bewerb nicht verändert werden, hat die Wirtschaft keinen Grund, etwas zu ändern.

Wenn der Konsument für die tatsächlichen Kosten aufkommen ­müsste, dann würde Innovation bloss noch eine untergeordnete Rolle spielen. Langlebigkeit, Stabilität und die Möglichkeit, defekte Geräte zu reparieren, würden zum entscheidenden Kriterium.

Innovation findet ihre Begründung im Wettbewerbsprinzip. Es ist dieses Prinzip, das unsere Zeit beinahe vollständig kontrolliert, jenes Prinzip, das von ­beinahe sämtlichen Parteien, ob links oder rechts, verteidigt wird. Die Volkswirtschaften, die Unternehmen stehen in einer Konkurrenz, bis hinunter zum einzelnen Menschen herrscht ein gnadenloser Wettbewerb, und nur jene überleben, die sich in diesem Rennen einen Vorteil verschaffen. Das wäre zu rechtfertigen, wenn diese Innovationen noch einen wirklichen Vorteil bringen würden.

Dark Mode ­erinnert ­daran, dass immer jemand für unsere Fehler ­bezahlt

Ohne Frage hat das erste iPhone, das im Jahr 2008 auf den Markt kam, die Gesellschaft revolutioniert und das Leben vieler Menschen verändert. Für alle nachfolgenden Modelle gilt das nicht nur annähernd. Und trotzdem benutzt niemand mehr ein zwölf Jahre altes Smartphone. Und im Herbst werden nun 300 Millionen weitere iPhones im Müll landen. Für sämtliche Modelle der Generation 7 und 8 ist das neue Betriebssystem nicht verfügbar, sie erhalten keine Updates und werden zu Industrieruinen. Der evolutionäre Fortschritt hat sie zu Untauglichen ­erklärt. Und dabei sind die jüngsten dieser Smartphones gerade vier Jahre alt. Es sind hochkomplexe, extrem ­potente Maschinen, vollkommen funktionstüchtig – und doch nur noch Schrott und die dafür aufgewendeten Ressourcen verloren.

Es ist zu befürchten, dass der Lebenszyklus der neusten Smartphones noch kürzer und der Unterschied zu den nächsten Modellen noch kleiner sein wird. Denn diese Entwicklung ­verläuft asymptotisch. Jede weitere Neuerung bringt nur noch eine gradu­elle Verbesserung, verursacht aber immer höhere Kosten. Und wozu? Damit wir Schweinchen und Welpen mit unseren Gesichtszügen verschicken können.

Aber es gibt Hoffnung. Das Betriebssystem bringt eine Neuerung, die uns vielleicht daran erinnert, dass wir die Ressourcen besser und sinnvoller einsetzen soll­ten, als sie bei für vollkommen überflüssigen Innovationen zu verschleudern. Eine Funktion, die uns vielleicht daran erinnert, dass es immer jemanden gibt, der für begangene Fehler bezahlen muss. Und dass wir uns eine andere Methode suchen sollten, um unsere Gesellschaft weiterzubringen. Damit wir, die vermeintlichen ­Sieger in diesem Wettbewerb, nicht plötzlich zu den Verlierern gehören und ausgemustert werden. Die wichtigste ­Innovation im neuen Betriebssystem, lange erwartet, bereits verfügbar auf Laptops und dort beliebt, weil dem Zeitgeist entsprechend, ist der Dark Mode.

Lukas Bärfuss erhält die wichtigste deutsche Literaturauszeichnung
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Grosse Anerkennung:Lukas Bärfuss erhält den Georg-Büchner-Preis
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