Immer mehr Arbeitnehmer kümmern sich um ihre Angehörigen – die Wirtschaft schlägt Alarm
Die Schweiz wird zum Pflegefall

Zwölf Prozent der Angestellten sind Gratis-Pfleger. Die Zahl wird rasant steigen. Weil die Wirtschaft um ihre Talente fürchtet, reagieren jetzt erste Firmen und machen flexibles Arbeiten möglich.
Publiziert: 17.12.2017 um 15:34 Uhr
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Aktualisiert: 12.09.2018 um 21:45 Uhr
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Weil sich Arbeitnehmer um ihre Angehörigen kümmern, leidet die Wirtschaft.
Foto: Getty Images
Moritz Kaufmann

Wenn sich jeder um sich selbst kümmert, ist für alle gesorgt.» Das Sprichwort gilt nicht mehr. Die Alterspyramide zeigt: Der Anteil derjenigen, die nicht mehr für sich selber sorgen können, steigt und steigt (siehe Grafik). Martin Eling (40), Wirtschaftsprofessor an der Universität St. Gallen (HSG): «Bis 2030 wird sich die Zahl der Menschen verdoppeln, die älter sind als 80 Jahre. Das sind dann über eine Mil­lion. Ein beträchtlicher Anteil davon wird gepflegt werden müssen.»

Das bedeutet Körperpflege, Essen zubereiten, Wäsche waschen, Medikamente einteilen, beim Aufstehen helfen und, und, und ...

Für die Wirtschaft wird das zunehmend zum Problem. «Die Schweiz ist ein Dienstleistungsland. Den Fachkräftemangel werden wir sehr stark spüren», sagt Professor Eling. «Wenn die Arbeitskräfte, die eigentlich im erwerbsfähigen Alter sind, dann noch ihre Angehörigen pflegen, geht noch mehr Potenzial verloren.»

Die Schweiz im Jahr 2030. Die ältere Bevölkerung nimmt stark zu. Viele brauchen Pflege.
Foto: Ringier Infographics

Die Rechnung ist einfach: Heute stehen die Babyboomer – die geburtenreichen Nachkriegsgenera­tionen – vor der Pensionierung. Sie hatten zwar wenige Kinder. Die aber werden die Pflegeleistung zu einem beträchtlichen Teil schultern müssen.

Schon heute stemmt ein Grossteil der Werktätigen die damit verbundene Doppelbelastung: Rund zwölf Prozent aller Angestellten leisten in irgendeiner Form Pflegedienste, wie Iren Bischofberger (52), Pflegewissenschaftlerin bei der Stiftung Careum, durch Untersuchungen in mehreren Betrieben herausfand. «Fragt man, wie viele Angestellte zurückliegende Erfahrungen damit haben, erhöht sich die Anzahl nochmals», sagt sie.

Viele senken ihr Pensum

Durchgeführt wurden die Befragungen vor allem im Dienstleistungssektor. «Dort ist es einfacher, Teilzeit zu arbeiten», so Bischofberger. Nicht selten senken Angestellte ihr Pensum, um zu Angehörigen schauen zu können – durchaus auch aus finanziellen Überlegungen. Zwar beziehen sie dann weniger Lohn, aber: «Der Platz in einem Altersheim kostet viel Geld. Das kann vom Erbe weggehen. Diese Rechnung werden die Leute machen», glaubt Wissenschaftler Eling.

Pflegeforscherin Bischofberger beobachtet auch, dass Frauen, die Kinder grossziehen, nicht auf den Arbeitsmarkt zurückkehren: «Wenn die Kinder nach circa 15 Jahren selbständig werden, kümmern sich die Frauen um ihre Eltern.»

Sogar der Arbeitgeberverband ist alarmiert. «Es kann sich ein Zielkonflikt zwischen der Verbesserung der Rahmenbedingungen für betreuende und pflegende Angehörige und der besseren Ausschöpfung des inländischen Fachkräftepotenzials ergeben», stellt Ressortleiterin Arbeitsmarkt Daniella Lützelschwab (50) fest.

Einzelne Firmen haben dies bereits erkannt. Etwa das Ingenieurbüro TBF und Partner mit Niederlassungen in der ganzen Schweiz. «Natürlich ist es für uns wichtig, dass es unseren Angehörigen gut geht. Dann ist der Kopf frei», sagt Nicola Tidoni (51), der dort fürs Personal zuständig ist.

Seine Firma bietet diverse Arbeitzeitmodelle an, zum Beispiel Jahresarbeitszeit. So liessen sich Arbeit und Pflege besser vereinbaren. Auch bei plötzlich auftretenden Notsituationen zeige TBF Verständnis: «Wir hatten kürzlich ­einen Fall, bei dem ein Mitarbeiter kurzfristig nach Süditalien musste. Familiäre Notfälle gehören leider zum Leben. Da ist für uns Entgegenkommen selbstverständlich.»

Das Ingenieurbüro ist auch Mitglied bei Profawo. Der Verein berät TBF-Angestellte in der Frage, wie sich Beruf und Pflege vereinbaren lassen.

Vereinbarkeit von Beruf und Pflege wird erst zum Thema

Bei Profawo sind rund 180 Firmen Mitglieder, vom KMU bis zur Grossbank. Vereins-Geschäftsführerin Renate Derungs (58): «Kinder sind viel kalkulierbarer als pflegebedürftige Angehörige.» Mittlerweile diskutiere man zwar breit über die Vereinbarkeit von Kindern und Beruf. Nicht aber über die Vereinbarkeit Beruf und Pflege. Dabei sei das viel komplexer. «Bei älteren pflegebedürftigen Angehörigen weiss man nicht, wie lange der Leidensweg dauern wird», so Derungs.

Zwar gebe es Firmen, die bei Pflegenotfällen drei Tage Abwesenheit vom Arbeitsplatz gestatten – so viele, wie wenn ein Kind erkrankt. Nur: «Das Kind ist in der Regel nach drei Tagen wieder fit. Die chronisch kranken Angehörigen nicht.»Allmählich wacht auch die Politik auf. Der Bund hat einen «Aktionsplan für pflegende Angehörige» verabschiedet. Zwölf Massnahmen sind darin aufgelistet, immerhin vier davon betreffen den Arbeitsmarkt.

Was wir über pflegende Arbeitnehmer wissen

12% aller Angestellten engangieren sich in irgendeiner Form in der Pflege.

40 Millionen Stunden wendeten Schweizer 2016 auf, um Erwachsene unentgeltlich zu pflegen.

1 Million Menschen werden 2030 über 80 Jahre alt sein.

12% aller Angestellten engangieren sich in irgendeiner Form in der Pflege.

40 Millionen Stunden wendeten Schweizer 2016 auf, um Erwachsene unentgeltlich zu pflegen.

1 Million Menschen werden 2030 über 80 Jahre alt sein.

Allerdings zeigt das Paket vor allem, wie wenig Bern noch immer über das Thema weiss: So gehört unter anderem das «Verbessern der Datengrundlagen» zum Aktionsplan. Ebenso das «Sensibilisieren von Unternehmen.» Angesichts der immer drängenderen Notlage sagt HSG-Professor Martin Eling: «Es ist ein riesiges Problem, das auf uns zukommt. Aber es wird nicht darüber gesprochen. Darüber wundere ich mich.»

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