Montagmorgen. Ihre Kaffeetasse ist bereits im Geschirrspüler versorgt. Das Bett ist gemacht, die Frisur sitzt. Fehlt nur noch der Griff zum Smartphone.
Ein Klick – und Ihre Wohnung beginnt die programmierte Verwandlung: Wände verschieben sich, Möbel ändern Form und Funktion. Der Geschirrspüler wird zum Schreibtisch, das Bett zur Besprechungs-Ecke, der Kleiderschrank zum Server-Turm.
Jetzt kann Ihr Arbeitstag beginnen. Und das Beste daran: Sie sind schon mitten in der Stadt – überfüllte Züge, Staus und Nerven, die im Stossverkehr blank liegen, sind für Sie Vergangenheit.
Wohn- und Arbeitsräume zusammenlegen
Zumindest, wenn es nach Dirk Helbing (54) geht. «So lösen wir das Pendlerproblem», verspricht der Professor für Computational Social Science an der ETH Zürich: «Indem wir Wohn- und Arbeitsräume zusammenlegen.»
Dazu fehlen nur noch robotische Möbel, die sich auf Knopfdruck umbauen lassen. Die werde es schon bald geben, sagt Helbing. Dann wird die Rekonfigurierung von Räumen, wie sie dem Zürcher Wissenschaftler vorschwebt, ein Kinderspiel. Sie lassen sich dann während 24 Stunden am Tag nutzen – und seine Vision ist Wirklichkeit geworden.
In der modernen Architektur sei ein Trend in Richtung auf Neugestaltung von Wohn- und Nutzflächen bereits erkennbar: «Die Kombination von Architektur, Möbelbau und Robotik führt zu ganz neuen Raumlösungen», sagt der ETH-Professor. «Sie erlauben es, an einem Ort zu arbeiten und zu leben.»
Wohnungsmarkt neu erfinden
Das hätte nicht nur einen nachhaltigen Effekt auf unser Nervenkostüm, sondern auch auf den CO2-Ausstoss. Der soll nach dem Willen der Politik in drei Jahrzehnten um 50 Prozent zurückgehen. Bekäme die Gesellschaft das Problem des Berufsverkehrs in den Griff, wäre zugleich ein zentraler Treiber des CO2-Ausstosses eliminiert.
Warum pendeln die Menschen überhaupt? Viele würden lieber in der Stadt leben, wo ihr Arbeitsplatz ist. Aber der Wohnraum dort ist beschränkt und teuer. Helbings Forderung: «Wir müssen den Wohnungsmarkt neu erfinden.»
Sein Ansatz ist einfach. Die Hälfte des Tages verbringen die Menschen in ihren Wohnungen und Häusern. Die andere Hälfte sind sie am Arbeitsplatz. Am Tag stehen die Wohnräume leer, in der Nacht die Büros. Es liegt also dauernd ungenutzte Fläche brach. «Die Verbindung von Wohn- und Nutzflächen hat enormes Potenzial», sagt Helbing. Geht es nach ihm, wird Pendeln künftig unnötig – indem wir Arbeits- und Wohnort in den Städten zusammenlegen.
Leben auf 30 und weniger Quadratmetern?
«Die Idee hat Potenzial», sagt Stefan Breit (31) vom Gottlieb Duttweiler Institut. Der Gesellschaftsforscher hat an einer Studie mitgearbeitet, die sich mit städtischem Wohnen im 21. Jahrhundert befasst. Der Trend: Wohnen wird vielfältiger. Weil die Individualisierung voranschreitet.
In den grossen Schweizer Städten lebt heute schon die Hälfte der Menschen allein. Doch Wohnungen mit 80 Quadratmetern sind nicht für Singles gemacht. Deshalb gilt unter Architekten und Städteplanern das sogenannte Microliving als zukunftsträchtig: Leben auf 30 und weniger Quadratmetern – Wohneinheiten in der Grösse von Klosterzellen.
100 solcher Kleinstwohnungen werden zurzeit neben dem Prime Tower in Zürich angeboten. Ebenfalls im Trend sind sogenannte Clusterwohnungen, in denen jeder Bewohner ein Zimmer und eine Küche hat. Der Rest des Wohnraums wird geteilt. Beide Wohntrends klingen nach Verlust, nach weniger Privatsphäre und nach weniger Besitz. Fragt sich, ob die Leute das wirklich wollen.
Weniger Rückzugsraum – mehr Sozialfläche
«Es ist eine Frage der Perspektive», sagt Stefan Breit vom Duttweiler Institut. Das Prinzip «My home is my castle» gelte für immer weniger Menschen.
Immer mehr dagegen hielten Möglichkeiten für wichtiger als Besitz. Der Zukunftsforscher: «Sie wollen in der City leben und Zugang zu den Angeboten des Zentrums haben. Es ist eine neue Auffassung von Luxus.»
Weniger Rückzugsraum – mehr Sozialfläche: Daran orientieren sich auch die Vorstellungen von ETH-Professor Helbing. Was die Forschungen zum Microliving bisher nicht einbezogen haben, liefert er nun nach: die Verknüpfung von Wohnen und Arbeiten.
Dadurch entstehen neu konfigurierte Räume, in denen robotisierte Möbel unterschiedliche Nutzungsformen ermöglichen. Eine verlockende Perspektive für jene, die in Zeiten zunehmender Temperaturen in unklimatisierten Zügen zur Arbeit fahren müssen.
Mit der konsequenten Zusammenlegung von Wohn- und Arbeitsort wäre auch ihr Problem gelöst.