Raketen erhellen den Nachthimmel, Bomben detonieren und lassen die Erde erbeben. Die ukrainische Bevölkerung wollte lange nicht an eine russische Invasion glauben. Seit Donnerstagmorgen ist sie Realität und treibt Tausende Menschen in die Flucht. Auch der Berner Peter Wermuth (73) will die Ukraine so schnell wie möglich verlassen. «Als ich die Detonationen hörte, packte ich meine Sachen und flüchtete mit dem Auto aus der Stadt», sagt er am Telefon zu Blick.
Der Wahlukrainer lebt in der ukrainischen Grossstadt Charkiw in unmittelbarer Nähe zur russischen Grenze. Um 5 Uhr morgens habe er die ersten Detonationen gehört, erzählt er auf seiner Flucht gegenüber Blick. «Mir macht eigentlich nichts so schnell Angst, aber da hatte ich schon ein sehr mulmiges Gefühl.» Von Bekannten erfährt er, dass etwa 60 Kilometer vor der Stadt rund 100 russische Panzer aufgefahren sein sollen.
Gewaltiger Flüchtlingsstrom aus der Stadt
Peter Wermuth wurde hierzulande als Berner Kaffeekönig bekannt. In der Ukraine hat er in den letzten drei Jahrzehnten eine grosse Kaffeehauskette aufgebaut. Mittlerweile hat er sie verkauft. Heute hilft er seiner Geschäftspartnerin, in der Ukraine ein Vertriebsnetz für die Schweizer Kräuterbonbons Ricola aufzubauen.
Weil sich die Lage bereits in den Tagen zuvor immer mehr zugespitzt hatte, bereiteten sich Hunderttausende Ukrainerinnen und Ukrainer auf eine Flucht vor. Auch Wermuth hatte vorgesorgt und war vergangene Woche mit dem Auto nach Charkiw gereist, damit er im Ernstfall schnell zurück in die Schweiz flüchten kann – auch wenn der Flugverkehr eingestellt ist.
Als er Donnerstagmorgen um 6 Uhr in sein Auto steigt und losfährt, sind die Strassen völlig überfüllt. «Ich stand während 50 Kilometern im Stau», sagt er. Die Fahrt ins südwestlich gelegene Krementschuk dauert normalerweise rund drei Stunden. An diesem Tag ist Wermuth zwölf Stunden unterwegs.
Flucht ohne Stiefkinder
Am liebsten hätte er auch seine vier Stiefkinder mitgenommen. Er habe die Kinder zehn Jahre lang wie seine eigenen grossgezogen. Da er und seine Ex-Partnerin nie verheiratet waren, hat er jedoch keine Verfügungsgewalt über die Kinder. «Auch mein 18-jähriger Stiefsohn wollte in Charkiw bleiben», erzählt Wermuth. «Zum Glück haben sie einen guten Keller mit dicken Mauern, in dem sie übernachten.»
Am Donnerstagabend nahm er sich in Krementschuk ein Hotelzimmer. Das sei nicht einfach gewesen. «Es sind zahlreiche Familien mit Kleinkindern auf der Flucht und die Hotels unterwegs praktisch ausgebucht.» Seine Geschäftspartnerin sei mit ihrer Tochter in einem zweiten Auto dabei. «Sie wollen weiter in den Westen des Landes, wo es sicherer ist.»
Regierung rationiert Treibstoff
Die Flüchtenden müssen sich den Treibstoff gut einteilen. Die ukrainische Regierung hat aufgrund der grossen Flüchtlingsströme Benzin und Diesel rationiert. «An den Tankstellen darf man derzeit nicht mehr als 20 Liter tanken», sagt Wermuth.
Am Freitag setzten sie ihre Fahrt Richtung Winnyzja fort, erreichten die Stadt nahe der Grenze zu Moldawien erst spät in der Nacht. Dann die Überraschung: Sein Hotelzimmer war vergeben. «Ich habe nun im Haus eines Wiederverkäufers übernachtet.» Bei der Fahrt dorthin sei der Fliegeralarm losgegangen, «Panik pur», so der Berner. Am Samstag will er versuchen, Czernowitz an der rumänischen Grenze zu erreichen.
Wermuth ist noch immer fassungslos über die aktuelle Situation. «Ich hätte nie mit einem Angriff gerechnet. Aber Wladimir Putin ist offensichtlich komplett unberechenbar.»