Die Einführung von flexiblen Arbeitszeiten für Pöstler bei der Abendzustellung in Mägenwil AG sorgte für Aufsehen. Nach den BLICK-Enthüllungen reagiert der neue Post-Chef Roberto Cirillo (48) umgehend und speckte das umstrittene Pilotprojekt massiv ab. Doch die Post ist nicht das einzige Unternehmen, das vom Effizienz-Wahn ergriffen wurde.
Besonders im Gesundheitswesen nehme die Optimierung der Arbeitszeit gefährliche Züge an, warnt Christine Michel, Fachsekretärin Gesundheitsschutz bei der Gewerkschaft Unia. «Wenn in der Pflege und Spitex einzelne Leistungen minutengenau eingegeben und abgerechnet werden müssen, führt dies ebenfalls zu Gratisarbeit, wenn der effektive Betreuungsanfall höher ist.» Oder es gehe an den Pausen der Mitarbeitenden ab und nage an ihrer Gesundheit, so Michel.
Immer mehr Profit
Immer abrufbar, flexible Arbeitszeiten, minutengenaue Dienstpläne. Immer mehr Menschen arbeiten in einem durchgetakteten Umfeld. Das macht vielen Angestellten zu schaffen. Rafael Lalive (46), Professor für Ökonomie an der Universität Lausanne, spricht von einem grossen Missverständnis. «Jeder Unternehmer ist dazu verführt, mit digitalen Werkzeugen alle Prozesse und damit auch seine Mitarbeiter zu optimieren, um mehr Profit zu generieren.» Doch das sei kurzsichtig.
Bei der Belegschaft führe ein solches Verhalten zu grosser Frustration. «Die Angestellten sind das Kapital eines Unternehmens. Werden sie bei der Digitalisierung nicht ins Boot geholt, schadet das dem Unternehmen», sagt Lalive. Es brauche daher Begleitmassnahmen: «Ein neues Projekt darf nicht einfach vom Management verordnet werden. Es braucht die Mitarbeit der Angestellten.» Nicht zu vergessen: «Motivierte Mitarbeiter sind profitabler», sagt Lalive.
Mitarbeiter in Warteposition
Gleichzeitig schieben die Arbeitgeber die Verantwortung ab. «Es gehört zum Kernbereich des Unternehmerrisikos, dass Arbeit unregelmässig – oder gar nicht – anfällt. Dieses Risiko und damit auch die Kosten hat der Arbeitgeber und nicht der Arbeitnehmer zu tragen», sagt Thomas Geiser (65), Professor für Arbeitsrecht von der Universität St. Gallen.
Die Gewerkschaften sehen dahinter auch ein grundsätzliches Problem, jeder schaut nur für sich, und die Unternehmen schauen vor allem auf die Kosten: «Entsolidarisierung ist ein grosses Thema», sagt Susanna Meierhans (56) vom Personalverband Transfair. «Heute wird erwartet, dass jeder auf Knopfdruck parat ist – wie eine Maschine!»
Der Arbeitgeber ruft, der Mitarbeiter muss rennen, kann seinen Tag nicht autonom planen. Das kann eine enorme psychische Belastung sein, sagt der Arbeitspsychologe Theo Wehner (70) von der ETH Zürich: «Die Mitarbeitenden sind in einer Warteposition, die sie nicht beeinflussen können – und die sie davon abhält, sich auf andere Aufgaben etwa im Haushalt oder bei der Gestaltung der Freizeit zu konzentrieren.»