Auf einen Blick
«Ich kann es anderen Pflegeeinrichtungen nur empfehlen», sagt Christian Schüpbach zum Beobachter. Er ist Geschäftsführer des Senevita Sonnenparks in Pratteln BL. Seit einem Jahr bietet das Seniorenheim Praktika für Geflüchtete an. «Wir hoffen, so Leute für den Pflegeberuf zu gewinnen.»
Personalnot ist in seiner Branche ein Dauerzustand. Die Praktikantinnen sind für ihn ein Hoffnungsschimmer. «Bei drei von fünf Personen sehen wir Potenzial für einen Beruf in der Pflege. Zählt man die Arbeit in unserer Hotellerie oder im Restaurant hinzu, sind vier von fünf für uns interessant.»
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Die Schweiz sucht längst nicht nur in der Pflege Arbeitskräfte. Auch im Service, im IT-Bereich oder in der Industrie werden händeringend Leute gesucht. Gleichzeitig finden Geflüchtete nur schlecht eine Arbeit. Auch wenn sie hier eine Aufenthaltsbewilligung haben und legal arbeiten dürfen. Sieben Jahre nach der Ankunft hat nur gut die Hälfte von ihnen einen festen Job. Woran liegt das?
Gegen das «Schmarotzer»-Klischee
Für die SVP ist die Antwort klar. «Statt gezielt jene Migranten zu holen, die einen Mehrwert für unser Land bringen, ziehen wir schlecht ausgebildete und schwer integrierbare Asyl-Schmarotzer aus fremden Kulturkreisen an, die nur ein Ziel haben: von unserem hart erarbeiteten Wohlstand zu profitieren.» Das schreibt sie in ihrem Positionspapier zur Migrationspolitik 2023.
Wer täglich mit dem Thema zu tun hat, urteilt anders. «Am Willen fehlt es den allermeisten nicht», sagt Jörg Schilter, zuständig für die Asyl- und Flüchtlingskoordination in der Stadt Uster ZH. Er arbeitet seit 20 Jahren im Asylbereich, lange spezifisch in der Arbeitsintegration.
Sprachunterricht und Vorlehre
Bund und Kantone tun viel, um Geflüchtete beim Einstieg ins Arbeitsleben zu unterstützen. Anerkannte Flüchtlinge und vorläufig Aufgenommene erhalten Sprachunterricht, sobald sie an die Kantone überwiesen werden. Ebenfalls wird bereits dann abgeklärt, für welche Arbeit sich jemand eignen könnte. Dazu kommen Vorlehren, Brückenangebote und Berufseinstiegshilfen.
18’000 Franken stellt der Bund den Kantonen seit 2019 pauschal pro geflüchtete Person zur Verfügung, um ihre Integration zu fördern. Dreimal so viel wie vorher. «Diese Investitionen zahlen sich aus», sagt Schilter.
Immer mehr Jugendliche in Lehre und Gymi
Die Zahlen des Bundes bestätigen ihn: Von den Geflüchteten, die 2020 in die Schweiz gekommen sind, hatte drei Jahre später mehr als ein Drittel eine Arbeit oder eine Ausbildung angefangen. Bei den im Jahr 2015 Angekommenen war es nach derselben Dauer erst gut ein Fünftel. Seit 2012 machen jedes Jahr mehr junge Geflüchtete eine Berufslehre oder gehen ins Gymi.
Aber ist es wirklich ein Erfolg, wenn trotz aller Bemühungen fast die Hälfte aller Geflüchteten weder Job noch Ausbildung hat? «Man muss die Verhältnisse realistisch betrachten», sagt Jörg Schilter.
Der Schweizer Arbeitsmarkt gehöre zu den anspruchsvollsten der Welt. Menschen mit Fluchterfahrung müssen zuerst die Sprache erwerben, viele bringen nur wenig Schulbildung und kaum Arbeitserfahrung mit.
Oft kommen psychische oder andere gesundheitliche Probleme hinzu, ein Teil ist zudem schon in einem Alter, in dem Arbeitssuchende generell schwer einen Job finden. «Personen aus dem Asylbereich sind in aller Regel keine Facharbeiter. Sie dürfen hier bleiben, weil die Schweiz sie als schutzbedürftig einstuft oder eine Rückkehr nicht zumutbar ist. Ihre Eignung als Arbeitskraft spielt dabei keine Rolle», sagt Schilter.
Praktika für Personen mit Fluchtgeschichte
Dennoch gibt es für die Schweiz fast keine Alternative, als zu versuchen, Geflüchtete in den Arbeitsmarkt zu integrieren. Denn die Zahl der Ankommenden nimmt weiter zu. Das Staatssekretariat für Migration (SEM) rechnet im laufenden Jahr mit 30’000 neuen Asylgesuchen. Gleichzeitig wird sich der Fachkräftemangel in vielen Branchen zuspitzen.
Wie aber werden aus geflüchteten Menschen Schweizer Fachkräfte? Im Sonnenpark in Pratteln lernen sie während des dreimonatigen Praktikums vor allem die Grundtätigkeiten der Pflege: Hilfe beim An- und Auskleiden, Hilfe beim Waschen, Essen anreichen, Spaziergänge machen.
Die meisten Praktikantinnen waren bisher Frauen aus Eritrea und Syrien, meist zwischen 30 und 40 Jahre alt, viele mit nur wenig Schulbildung.
«Die Rückmeldungen der Bewohnerinnen und Bewohner sind mehrheitlich positiv. Sie schätzen den Austausch mit Menschen mit einem anderen Hintergrund und spüren den hohen Respekt, den viele Geflüchtete alten Menschen gegenüber haben», sagt Pflegedienstleiterin Natascha Bönicke.
Voraussetzung sind Grundkenntnisse in Deutsch, damit eine Verständigung möglich ist. Oft fehlen sie, ebenso wie Computerkenntnisse. Der Weg in den Beruf ist weit, auch wenn die Eignung vorhanden ist. «Viele sagen: ‹Ich habe Hände, ich kann doch arbeiten›, aber selbst für eine Ausbildung auf Hilfspersonal-Niveau braucht es deutlich mehr», sagt Bönicke.
Selbst für Leute mit guter Ausbildung schwierig
Aber auch gut ausgebildete Geflüchtete haben häufig Mühe, eine Stelle zu finden. Hier setzt Powercoders an. Der Verein bildet Leute mit Fluchtgeschichte zu IT-Fachkräften aus und vermittelt sie an Arbeitgeber. Teil der Ausbildung ist ein sechs- bis zwölfmonatiges Praktikum bei einem Partnerunternehmen.
Der Verein versteht sich als Türöffner. Zweimal jährlich veranstaltet er einen Career Day, an dem Teilnehmer mit Unternehmen in einer Art «Speed Dating» zusammengebracht werden. «Wir leihen den Leuten sozusagen unser Vitamin B. Das ist im Arbeitsmarkt entscheidend.» Ohne diese Hilfe sind die allermeisten chancenlos.
Lebensläufe vom Computer aussortiert
Viele werden gemäss Christina Gräni von Powercoders von Firmen bereits in der ersten Triage ausgemustert. Allein schon wegen der häufig langen Flucht haben viele kein lineares, klassisches CV. Keine gute Voraussetzung – denn erste Schritte in Bewerbungsprozessen finden häufig online statt. Nicht passende Bewerbungen werden teils automatisch von Computersystemen aussortiert.
Wer hingegen am Powercoder-Programm teilnimmt, hat gute Chancen. 60 Prozent finden nach Abschluss einen Job. «Wir würden gern mehr als 60 Teilnehmer pro Jahr aufnehmen, aber wir haben nicht genügend Praktikumsplätze», so Christina Gräni zum Beobachter. Woran das liegt? Gräni glaubt, dass es vor allem an der Unsicherheit der Firmen liegt. «Manchmal ist es auch einfach Bequemlichkeit, die sie davon abhält, sich auf etwas Neues einzulassen.» Dabei wurden in den letzten Jahren viele bürokratische Hürden abgebaut. Arbeitsbewilligungen zum Beispiel braucht es nicht mehr. Nur noch eine Meldung beim Kanton.
Zufriedener Gastronom
Keine Berührungsängste kennt Stargastronom Michel Péclard. Er stellt seit vielen Jahren geflüchtete Menschen in seinen Gastrobetrieben rund um den Zürichsee ein. Von den rund 500 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern sind dies aktuell rund 75 Personen. Viele weitere Mitarbeitende seien schon länger hier und hätten mittlerweile andere Bewilligungen.
Dazu zählt auch Péclards pakistanischer Grillchef Baba Godil in der beliebten «Pumpstation» am Stadtzürcher Seeufer. Er ist schon fast ein Lokalpromi, eine «One-Man-Show», wie ihn Lokalmedien nennen. Jeder kennt den lauten und immer aufgestellten Grilleur, der mittlerweile Geschäftsführer des Lokals ist. In seinen Betrieben setzt Péclard auf eine diverse Crew – seine «Mafia», wie er sie humorvoll nennt. Diese erleichtere ihm auch die Suche nach weiterem Personal. «Diese Mitarbeitenden rekrutieren gezielt innerhalb ihrer Community. Sie wissen genau, was die Anforderungen sind und was es für Papiere braucht.» Sie seien schon fast wie eine Firma innerhalb der Firma – er lasse das einfach laufen.
Einen gewissen Mehraufwand hat Péclard. Nicht nur administrativen. Klar müsse man Mitarbeitende, die kaum Deutsch sprechen und teilweise nicht lesen können, an die Hand nehmen. «Dafür sind sie sehr motiviert und dankbar. Und sie wollen lernen und sich integrieren.» Sie seien seine loyalsten Mitarbeiter. «Das ist nicht wie bei Schweizer Bewerbern, die sofort wieder gehen.»
Pragmatismus bei kulturellen Unterschieden
Péclard nervt der Zertifizierungswahn der Schweizer Institutionen. «Gastrosuisse verlangt, dass Leute für ihre Ausbildung Deutsch können. Das ist realitätsfern und nicht mehr zeitgemäss.» Er bilde seine Mitarbeiter darum selbst intern aus – in der Academy of Cooks & Pans. Gewisse Module könnten Teilnehmer digital sogar in afghanischen Sprachen absolvieren oder nur mit Bildern lernen.
Kulturellen Unterschieden begegnet der Gastronom pragmatisch. Vor ein paar Jahren hat er das Weihnachtsessen gestrichen. Viele Mitarbeiter hätten keinen Alkohol getrunken und Angst gehabt, am Buffet aus Versehen Schweinefleisch zu essen. Nun fährt das Team jedes Jahr in den Europapark. Zudem habe er eine Party für die afghanischen Mitarbeitenden und ihre Familien zum Fastenbrechen nach dem Ramadan eingeführt – «ein Riesenfest!».
Wenn Firmen aktiv auf Behörden zugehen
Nicht nur einzelne KMU machen aus der Arbeitskräftenot eine Tugend. Der Weltkonzern Ikea nahm nach der Geflüchtetenkrise von 2015/2016 Kontakt mit dem SEM sowie mit kantonalen Partnern und NGOs auf und fragte, was man tun könne, um zu helfen.
Mittlerweile hat Ikea Schweiz rund 280 Geflüchtete ausgebildet. Zunächst über Praktika, 2019 kamen Integrationsvorlehren aus dem Programm des Bundes dazu.
Die Programmteilnehmenden werden von Berufsbildnern und internen «Buddys» unterstützt, die wiederum speziell für diese Aufgabe geschult sind. Sie helfen auch mal mit Privatem, klären über Schweizer Regeln und Gesetze auf. Ikea hat auch ein Toolkit herausgebracht, um anderen Unternehmen in diesem Prozess zu helfen.
Daneben hat Ikea ein Programm für besonders vulnerable Mitarbeitende entwickelt. «Wir merkten, dass die Vorlehren nicht alle Menschen erreichten – etwa Eltern mit Kindern, die sich um deren Betreuung kümmern und nicht 100 Prozent arbeiten können, oder wenn die sprachliche Grundlage noch fehlt», sagt Regula Bächli, Leiterin der Integrationsprogramme bei Ikea. Dieses sogenannte Integrationspraktikum kann für sechs Monate mit einem Pensum ab 50 Prozent absolviert werden. Das Besondere: Die Teilnehmer erhalten zusätzliche Sprachkurse auf Arbeitszeit. Man habe nun viel mehr Frauen dabei – und auch ältere Geflüchtete.
Im Idealfall sind die Praktikantinnen in einem halben Jahr bereit, sich für eine Vorlehre oder eine Festanstellung zu bewerben. «Wir haben leider viel mehr Anfragen, als wir zusagen können», sagt Bächli. «Unsere Partnerorganisationen beim Kanton stehen weiterhin vor einer sehr hohen Nachfrage, besonders seit Beginn des Krieges in der Ukraine.» Diese Organisationen leiten Ikea passende Kandidatinnen weiter. Die dort angestellten Jobcoaches betreuten manchmal bis zu 200 Kunden.
Besonders von Ausbeutung betroffen
Geflüchtete haben aber nicht nur die höchsten Hürden zu bewältigen auf dem Weg zum Job. Sie gehören auch zu den verletzlichsten Arbeitnehmern. Gegen Ausbeutung in Form von zu tiefen Löhnen oder zu langen Arbeitszeiten können sie sich am schlechtesten wehren – weil sie die Gesetze nicht kennen und auf die Jobs angewiesen sind.
In Branchen mit vielen Geringqualifizierten wie der Pflege, der Gastronomie, dem Bau oder der Logistik sind Missbräuche am stärksten verbreitet. Die hier vorgestellten Betriebe beteuern natürlich alle, sich streng an Arbeitsgesetze und Tarife zu halten.
Zuschüsse für KMU
Umgekehrt muss sich ein Unternehmen den Mehraufwand leisten können, den die Beschäftigung von geflüchteten Arbeitnehmerinnen mit sich bringt – monetär und zeitlich. Nicht jedes KMU kann Mitarbeitende auf Arbeitszeit als «Buddys» einsetzen, zusätzliche Sprachkurse zahlen oder flexiblere Arbeitspläne garantieren. Beim Bund läuft darum seit 2021 ein Versuch, in dem Arbeitgeber für den Mehraufwand Zuschüsse erhalten. 2025 will er eine erste Bilanz ziehen.
Ist also mehr Geld die Lösung? «Es ist für die Steuerzahlenden nichts teurer, als wenn eine Person langfristig in der Sozialhilfe feststeckt – das gilt nicht nur für Geflüchtete», sagt Asylkoordinator Jörg Schilter aus Uster.
Talente in der Schweiz nutzen
Geflüchtete Werktätige können den Arbeitskräftemangel nicht beheben, das weiss auch Seniorenheim-Geschäftsführer Christian Schüpbach vom Senevita Sonnenpark in Pratteln.
Aber er will alles Potenzial im Land nutzen. Denn es wird immer schwieriger, im EU-Raum Leute für die Schweiz zu rekrutieren. «Längerfristig werden wir wohl vermehrt nach Pflegepersonal von ausserhalb Europas Ausschau halten müssen.»