Mit einem Stauvolumen von 150 Millionen Kubikmetern und einer Stromproduktion von 650 Gigawattstunden (GWh) ist es das mit Abstand grösste von 15 Projekten des Runden Tisches Wasserkraft: der neue Gorner-Stausee oberhalb von Zermatt. Er sollte einen Drittel des Winterstroms beisteuern, mit dem Bundesrätin Simonetta Sommaruga die Energiewende beschleunigen wollte. So steht es im Schlussdokument, das von Umweltorganisationen, Kantonen und der Strombranche im Dezember 2021 unterzeichnet wurde.
Vier Jahre später zeigt sich: Der Stromkonzern Alpiq, der die Zahlen lieferte, hat stark übertrieben. Da die Eisdecke des Gornergletschers bis zu 300 Meter dick ist, sei «im Jahr 2030 bestenfalls ein Drittel des vorgesehenen Seevolumens nutzbar», heisst es im erläuternden Bericht zum Ausbau der Winterstromproduktion der kantonalen Fachstelle von Ende November.
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Ausserdem seien «in jedem Fall 13 Millionen Kubikmeter für den Hochwasserschutz freizuhalten». Im Bericht, der sich auf Unterlagen von Alpiq stützt, bemängeln die Walliser Behörden zudem: Viele Projekte seien «bei weitem nicht so weit fortgeschritten, wie es die Projektträger vermuten liessen».
Drastisch weniger Winterstrom
Im Fall der 85 Meter hohen und 285 Meter breiten Staumauer am Gornergletscher heisst das laut Fachleuten: Statt 150 könnten zu Beginn höchstens 37 Millionen Kubikmeter Wasser turbiniert und damit über 75 Prozent weniger Winterstrom produziert werden als geplant. Zwar hatte eine Alpiq-Sprecherin anfänglich behauptet, man könne den Gletscher problemlos überfluten: Dies würde ihn «sogar konservieren».
Doch Wissenschaftler hatten im Frühling in einem Bericht des Beobachters vor Eisabbrüchen und Flutwellen gewarnt. Inzwischen bestätigt Alpiq, dass ab 2040 erst maximal 40 Prozent des Wasservolumens zur Verfügung stehen. Das volle Volumen sei je nach Klimaszenario ab 2045 oder 2060 nutzbar, wenn sich der Gletscher ganz zurückgezogen hat. Ursprünglich wollte Alpiq noch in diesem Jahr die Konzession einreichen. Davon ist keine Rede mehr.
Das Beispiel zeigt: Die geplanten neuen Stauseen verzögern sich wegen Planungsfehlern. Der Runde Tisch Wasserkraft hatte sich bei der Projektauswahl ausschliesslich auf die Angaben der Energiekonzerne verlassen – und die hatten unterschiedlich solide gearbeitet.
Die Vorhaben der Kraftwerke Oberhasli (KWO) am Grimsel und an der Trift waren im Dialog mit Interessengruppen über mehrere Jahre konsolidiert worden und stehen jetzt vor der Realisierung. Im Kanton Wallis dagegen, der mit einem massiven Ausbau der Wasserkraft zur «Alpenbatterie der Nation» werden möchte, begnügte man sich mit groben Skizzen.
Mängel bei Walliser Projekten
Fazit: Bei sechs von acht Walliser Projekten des Runden Tisches mussten die Angaben zur Stromproduktion jetzt im kantonalen Fachbericht korrigiert werden. Die Mauer des Moiry-Stausees, ebenfalls von Alpiq projektiert, kann neu «aus technischen Gründen» nur um 8 statt 22 Meter erhöht werden. Damit ist laut Bericht nur eine Erhöhung der Winterstromproduktion von 40 statt 125 GWh möglich.
Pikant: Das politisch unbestrittene Projekt hätte es mit einem derart geringen Output gar nie auf die Liste des Runden Tisches geschafft. Dieser hatte Projekte mit weniger als 50 GWh aussortiert. Doch trotz diesen Fehlern hat der Kanton Wallis soeben bekanntgegeben, dass er neun weitere Stauseen im kantonalen Richtplan festschreiben will.
Zwar kam es im Wallis zu besonders vielen Fehlern. Aber auch in anderen Alpenkantonen hapert es mit der Realisierung, wie der Beobachter im April dokumentierte. Energieminister Albert Rösti verfügt aufgrund einer Umfrage bei sämtlichen Energieunternehmen seit Sommer über alle Informationen zu den ungenauen Angaben und Verzögerungen.
Kritik an mangelnder Transparenz
Doch Röstis Leute halten die Resultate trotz grossem öffentlichen Interesse und mehreren Schlichtungsverfahren beim Öffentlichkeitsbeauftragten seit Monaten unter Verschluss. Sie berufen sich dabei aufs Geschäftsgeheimnis. Anstatt Transparenz zu schaffen, will der Energieminister raschestmöglich weitere Wasserkraftprojekte lancieren. Er will einen zweiten Runden Tisch einberufen, wie er letzte Woche bei einem Treffen mit Vertretern von Branche, Kantonen und NGOs erklärte.
Die Stiftung Landschaftsschutz fordert nun, dass der Bundesrat zuerst Konsequenzen aus den Fehlern der ersten Runde zieht: «Wirtschaftlichkeit und Realisierbarkeit der Vorschläge waren zu wenig überprüft worden, und ihre Verankerung im Gesetz war unausgegoren.»
Auch der emeritierte Hydrologieprofessor Rolf Weingartner, ein klarer Wasserkraftbefürworter, fordert, endlich «klare und transparente Entscheidungsgrundlagen» zu schaffen, die die «kurz- und mittelfristige Versorgungssicherheit in den Mittelpunkt stellen». «Sonst entscheiden die Stromunternehmen primär aus Rentabilitätsgründen.» Weingartner hatte schon vor drei Jahren das Vorgehen am Runden Tisch kritisiert.
Bergführer Benedikt Perren schliesslich, Sprecher lokaler Kritiker des Gorner-Projekts, sagt zu den jüngsten Entwicklungen: «Zermatt und seine Natur wären die grossen Verlierer.» Er kritisiert das Missverhältnis zwischen geringer Stromproduktion und massiven Schäden für Umwelt und Tourismus: «Zermatt soll ein einzigartiges Stück Heimat opfern – doch der Nutzen ist minimal.»