«Bei uns ist es komplizierter als bei anderen»
Turn-Held Seifert zeigt seine grosse Liebe

Er wollte nie ein einfaches Leben – und bekam es auch nicht. Noe Seifert trotzt Krankheit, Heimweh und Schmerz – und holt für die Schweiz in Indonesien die erste WM-Bronzemedaille im Mehrkampf seit 75 Jahren.
Publiziert: 16:59 Uhr
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Aktualisiert: 17:20 Uhr
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Eine spezielle Medaille: Die Mehrkampf-Bronzemedaille hat die Form einer Rafflesia arnoldii – einer besonderen indonesischen Pflanze.
Foto: Kurt Reichenbach
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Yara Vettiger
Schweizer Illustrierte

«Do I look like a man who wants a simple life?» steht auf einem Poster im Zimmer von Noe Seifert. Übersetzt etwa: «Sehe ich aus wie ein Mann, der ein einfaches Leben will?» Nein, tut er nicht. Und will er auch nicht. Der 27-jährige Aargauer hat sich vor wenigen Wochen an der Turn-Weltmeisterschaft in Jakarta in Indonesien mit Bronze im Mehrkampf eine Medaille erkämpft, auf die die Schweiz 75 Jahre warten musste. Er hockt auf dem Bett in seinem WG-Zimmer in Magglingen BE und lässt den Moment nochmals Revue passieren.

«Es ist schon surreal. Aber ich bin wahnsinnig stolz auf mich, das auf jeden Fall.» In seinen Händen hält Noe Seifert eine Medaille, die so besonders ist wie der Moment selbst. Sie ist gross, schwer – und geformt wie eine Blüte. Die WM-Organisatoren liessen sich von der Rafflesia arnoldii inspirieren, einer indonesischen Pflanze. Sie steht für die Harmonie zwischen Stärke und Schönheit – genau das, was Kunstturnen ausmacht: Kraft, Beweglichkeit, Präzision und Ästhetik in vollkommener Balance. Dass ausgerechnet diese Blume die Medaille ziert, ist mehr als ein Detail. Die Rafflesia blüht ganz selten – so wie Momente sind, in denen Geschichte geschrieben wird. Und Noe Seifert hat in Jakarta genau das getan. «Ich hatte ehrlich gesagt noch immer keine Zeit, das Ganze zu verarbeiten. Aber so eine Medaille macht Mut und gibt Selbstvertrauen.»

Vor allem auch, weil Seiferts Vorbereitung alles andere als gut war. Der Kunstturner hatte kurz vor der WM kleine Kalksteinchen, sogenannte Otolithen, im Innenohr, die sich gelöst hatten. Diese beeinträchtigen den Gleichgewichtssinn. «Nicht grad optimal für jemanden, der Saltos und Schrauben stehen muss», scherzt er. Erst eine Woche vor WM-Start konnte er wieder richtig trainieren. «Ich habe gemerkt: Es geht auch so. Mein Körper erinnert sich an alles, was ich trainiert habe. Ich bin in Topform.»

Der Weg nach oben

Schon im Alter von vier Jahren sah Seifert im Fernsehen die Olympischen Spiele in Athen und sagte beim Kunstturnen zu seinen Eltern: «Das will ich machen.» Im Dorf kannte sein Vater einen Trainer – der Beginn einer langen Reise. Mit 13 zog er nach Magglingen zu einer Gastfamilie – und musste insgesamt dreimal wechseln, weil die Familien jeweils wegzogen. «Vielleicht lags an mir, dass alle umgezogen sind!», witzelt er. «Am Anfang hatte ich grosses Heimweh, weil ich meine Freunde vermisste. Und in der Schule in Biel hinkte ich im Französisch recht hinterher», erzählt er.

Doch Seifert liess sich davon nicht beirren und kämpfte sich hoch. Heute gehört er mit seinen zwei EM-Medaillen (Silber mit dem Team und Bronze am Barren) und WM-Bronze zur Weltspitze. Für seine Leistung bekam er ein kleines Preisgeld. «Ich werde einen Teil auf die Seite legen. Reich wird man mit diesem Sport aber nicht.» Seifert arbeitet nebenbei noch 30 Prozent als KV-Angestellter beim Sportförderprogramm Jugend+Sport. «So komme ich über die Runden. Aber mit meiner Freundin zusammenzuziehen, ginge finanziell leider nicht.»

Die Frau an seiner Seite

Seit drei Jahren sind Seifert und Larissa Thalmann (26) ein Paar. Die Kleinkindererzieherin aus Winterthur ZH turnt hobbymässig im örtlichen Turnverein. Kennengelernt haben sie sich über Instagram. Larissa erzählt: «Er hat damals irgendwas gewonnen und ich habe ihm einfach gratuliert. Dann sind wir ins Gespräch gekommen, haben uns getroffen und es hat gefunkt.» Nicht in ihren kühnsten Träumen habe sie sich vorgestellt, einmal mit einem Profi liiert zu sein. «Wir geben beide viel dafür, dass diese Beziehung funktioniert – schliesslich sehen wir uns viel seltener und es ist einfach komplizierter als bei anderen.» Noe nickt und fügt hinzu: «Sie hat sehr viel Verständnis für mich und den Sport. Das ist sehr wertvoll.»

Ob die beiden auch schon zusammen trainiert haben? «Nein! Sport machen mit ihm ist ein bisschen blöd, weil er einfach alles besser kann.» Sie lacht. «Ausser Schwimmen, das kann ich besser!» Für Larissa ist klar, dass Noe der Mann an ihrer Seite ist. «Ich habe meine Hochzeit schon geplant, seit ich ein kleines Mädchen bin. Ich wünsche es mir.» Nur Noe zögert noch etwas wegen der Heiratsstrafe. Aber wer so hart für seine Träume kämpft, weiss wohl: Die schönsten Dinge brauchen manchmal einfach ein bisschen länger.

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