Ob er sich so jung fühle, wie er auf dem Court aussehe, wurde Roger Federer nach seinem Husarenstück gegen Novak Djokovic gefragt. Der 38-jährige Schweizer antwortet mit Humor: «Danke, ja. Aber ich glaube, das ist auch mein kurzer Haarschnitt.» Kurz und schnittig war es jedenfalls, das 6:4, 6:3, mit dem er den Serben vorerst wieder etwas auf Distanz hält.
Seine sechs Rekordtitel an den ATP-Finals – vielleicht werden es ja auch sieben – hat der Djoker zum vierten Mal in Folge nicht eingeholt. Und die 35 Wochen, die der Schweizer als 310-wöchige Rekordweltnummer 1 noch voraus ist, kann Djokovic (275 Wochen) über die Winterpause auch nicht verkürzen.
Der Älteste trifft auf den Jüngsten
Roger hat somit seinem Kumpel Rafa Nadal einen Dienst erwiesen, der nun die 200er-Marke auf dem Thron (bislang 197 Wochen) knacken wird. Zu einem weiteren Giganten-Duell wird es in den heutigen Halbfinals aber nicht kommen. Dafür zum Generationen-Duell zwischen dem 38-jährigen Tennis-Evergreen und dem 21-jährigen Stefanos Tsistipas. Der jüngste Teilnehmer dieses Saisonfinals verlor gestern Nachmittag zwar einen Dreisatz-Abnützungskampf gegen Nadal, schaffte es aber dennoch in die K.-o.-Phase des Turniers – dank Alexander Zverev, der am Abend Daniil Medwedew 6:4, 7:6 schlug.
Heute (15 Uhr Schweizer Zeit) trifft der Grieche also auf sein 17 Jahre älteres Idol. Seit dem Laver Cup ist Federer eine Art Übervater, der ihn als Ziehsohn akzeptiert hat. Wegen seines Aussehens wurde der langhaarige Stefanos von seinen Teamkollegen in Genf als «Jesus Christus» genannt. Dem schönen Bild zum Trotz: Weder er noch der Tennis-Gott kennen auf dem Court gegenseitige Gnade.
Nachdem Federer das erste Gruppenspiel gegen Dominic Thiem verlor und nicht genau wusste, wo er steht, ist er jetzt plötzlich der grosse Favorit in London. An Tsitsipas hat sich der Schweizer für die Erniedrigung Anfang Jahr bei den Australian Open bereits zweimal gerächt – bei den Heimspielen in Dubai und Basel. «Ob ich deshalb Favorit bin oder nicht, ist mir egal», sagt er. «Ich bin überzeugt, dass ich mit dem Selbstvertrauen, das ich jetzt habe, sehr gut spielen kann.»
Federer: «Träume nicht vom Titel»
Favorit war er allerdings auch letztes und vorletztes Jahr. 2017 hatte ihm dann David Goffin, 2018 Zverev einen Strich durch die Rechnung gemacht. Weise fügt Roger denn auch an: «Ich träume jetzt nicht gleich vom Titel, bin in Gedanken nur beim nächsten Gegner.» Dieser werde anders spielen als Djokovic, anders servieren, einen anderen Rhythmus vorgeben. «Ich muss mental eine neue Taktik anwenden. Wichtig ist, dass ich Klarheit habe, indoor darfst du dich nicht hinterfragen, niemals zweifeln.»
Im Kopf muss es Roger also auf die Reihe bringen. Körperlich sieht er mit kurzem Haarschnitt nicht nur jung aus, unser Tennis-Evergreen fühlt sich auch so. «Mit gehts top, und ich spüre mich eigentlich noch nicht am Limit. Es ist schwer, zu erklären, aber ich habe noch Marge.»