Odermatt und Zurbriggen über Erfolg, Rummel und tödliche Dramen
«Es gibt ein Video, auf dem ich mit Brignone knutsche!»

Zwei Ski-Giganten, zwei Generationen, ein Interview. Marco Odermatt und Pirmin Zurbriggen vor dem Start in die neue Saison.
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Foto: Sven Thomann
Zurbriggen und Odermatt: Schweizer Ski-Helden im Doppel-Interview
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Bis am 22. Dezember 2024 war Pirmin Zurbriggen mit vier Weltmeistertiteln, vier Gesamtweltcupsiegen, einer Olympiagoldmedaille und 40 Weltcupsiegen der erfolgreichste Rennfahrer in der Swiss Ski-Geschichte.
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Publiziert: 11:13 Uhr
|
Aktualisiert: 16:29 Uhr

Blick: Pirmin Zurbriggen, welche Erinnerung verknüpfen Sie mit dem 22. Dezember 2024?
Pirmin Zurbriggen:
Weil das zwei Tage vor Weihnachten war, dürfte ich in unserem Suiten-Hotel ziemlich im Stress gewesen sein. Aber an etwas Besonderes kann ich mich gerade nicht erinnern.

Marco Odermatt hat an diesem Tag in Alta Badia mit seinem 41. Weltcupsieg ihren Schweizer Weltcup-Rekord gebrochen.
Zurbriggen:
Ach so, jetzt geht in meinem alten Hirn ein Licht auf – dieses Rennen habe ich selbstverständlich im TV mitverfolgt. Und ich kann mich noch flüchtig daran erinnern, wie Marco kurz nach der ersten Zwischenzeit der Ski abgeschmiert ist.

Marco Odermatt: Daran kann ich mich selber nicht wirklich erinnern.

Zurbriggen: Du hast diesen kurzen «Abschmierer» meisterhaft korrigiert. Und als du dieses Rennen gewonnen hast, habe ich mich sehr mit dir gefreut. Genau wie Loic Meillard, den ich als Bub bei Ski Valais kennengelernt habe, bist du mir besonders nahe, weil ich auch dich, deine Mama und Papa seit vielen Jahren persönlich kenne. Aber ich habe in diesem Moment keine Sekunde daran gedacht, ob das jetzt dein 40., 41. oder 42. Weltcupsieg ist – ich habe mich einzig über die Tatsache gefreut, dass dein Rennplan ein weiteres Mal aufgegangen ist.

Im August haben sich die beiden Ski-Giganten Marco Odermatt (l.) und Pirmin Zurbriggen in Zermatt zum Gipfeltreffen verabredet.
Foto: Sven Thomann

Marco, wie viel bedeutet Ihnen die Tatsache, dass Sie der Schweizer mit den meisten Weltcupsiegen sind?
Odermatt:
Dieser Rekord gehörte nie zu meinen Hauptzielen, aber ab und zu habe ich schon daran gedacht, dass es cool wäre, eines Tages der erfolgreichste Schweizer Weltcupfahrer zu sein. Doch während dem Rennen in Alta Badia habe ich kein einziges Mal daran gedacht, dass ich nun Pirmins Rekord knacken könnte.

Bevor ihr Vater 2002 zusammen mit Paul Schmidiger die Weichen für die Nachwuchsarbeit im Kanton Nidwalden gestellt hat, wollte er sich vom Ski-Valais Initiant Pirmin Zurbriggen beraten lassen. Sie waren ein fünfjähriger Knirps, als Sie ihren Papa zur Sitzung mit dem grossen Pirmin nach Zermatt begleitet haben. Können Sie sich daran erinnern?
Odermatt:
Das Bild, das ich als kleiner Bub mit meinem Dädi und Pirmin in der Nähe vom Hoteleingang an einem Tisch gesessen bin, habe ich immer noch in meinem Kopf. Aber ich weiss nicht, ob ich damals wusste, dass Pirmin ein so grosser Skirennfahrer war.

Zurbriggen: Ich werde nie vergessen, wie du eingeschlafen bist, während ich mich mit deinem Vater unterhalten habe. 

Odermatt: Wie ist mein «Dädi» mit dir in Kontakt gekommen?

Zurbriggen: Ganz einfach: Er hat mich im Hotel angerufen.

Odermatt: Ich kann mir gut vorstellen, dass seine Stimme vor lauter Ehrfurcht gezittert hat …

Zurbriggen: Mir war sofort klar, dass es sich bei Deinem Vater um einen extremen Sport-Enthusiasten handelt. Und was mir besonders aufgefallen ist: Er hat nie gesagt, dass er für seinen Bub etwas besonders tun will, sondern für seine Region. Das hat mir enorm imponiert. Wir haben damals im Wallis die Struktur für unseren Nachwuchs geändert. Wir haben alles daran gesetzt, dass unsere Talente die schulische Ausbildung und den Sport besser verbinden können. Für mich war es sehr schön, dass Walti mit seiner Familie den Weg zu mir ins Oberwallis auf sich genommen hat, um mehr von unserer Vision zu erfahren. Und ich habe mich darüber gefreut, dass er nach unserem Gespräch im Kanton Nidwalden eine ähnliche Nachwuchsförderung aufgebaut hat.

Im Garten von Zurbriggens Suiten-Hotel kommen bei Odermatt besondere Kindheitserinnerungen hoch. Als fünfjähriger Knirps hat «Odi» seinen Vater zu einer Sitzung mit dem grossen Pirmin in Zermatt begleitet.
Foto: Sven Thomann

In der Zwischenzeit ist aus der Nidwaldner Nachwuchshoffnung der Superstar Odermatt geworden, der wie Pirmin in den 80iger Jahren nahezu jeden Tag mit einem gigantischen Rummel um seine Person leben muss. Wie gehen Sie damit um?
Odermatt:
So schwer es auch ist - es gibt Momente, wo man sich gegenüber den Fans abgrenzen muss. Vor allem vor dem Rennstart. Aber wenn dich zehn kleine Kinder mit grossen, herzigen Augen anschauen, fällt es mir schwer, Selfie- oder Autogrammwünsche abzulehnen. Anders, als wenn dich auf dem Weg zum Sessellift zehn sturzbetrunkene «Jogglä» um ein gemeinsames Bild bitten.

Marco Odermatt persönlich

Marco Odermatt (28) ist der Überflieger im alpinen Skisport: Der Nidwaldner hat in den letzten vier Saisons den Gesamtweltcup gewonnen – 2023 mit dem Rekord von 2042 Punkten. 2022 kürte sich Odermatt in Peking zum Olympiasieger im Riesenslalom, 2023 wurde er Weltmeister in der Abfahrt und im Riesenslalom. Bei der letzten WM in Saalbach triumphierte der Stöckli-Pilot Gold im Super-G.

Marco Odermatt (28) ist der Überflieger im alpinen Skisport: Der Nidwaldner hat in den letzten vier Saisons den Gesamtweltcup gewonnen – 2023 mit dem Rekord von 2042 Punkten. 2022 kürte sich Odermatt in Peking zum Olympiasieger im Riesenslalom, 2023 wurde er Weltmeister in der Abfahrt und im Riesenslalom. Bei der letzten WM in Saalbach triumphierte der Stöckli-Pilot Gold im Super-G.

Zurbriggen: In meiner sportlichen Blütezeit hat es schon Momente gegeben, bei denen ich ausserhalb meiner Haustüre keinen Meter ungestört gehen konnte, weil so viele Menschen etwas von mir wollten. Das hat enorm an mir genagt. Trotzdem wollte ich immer Verständnis für die Begeisterung meiner Fans zeigen, zumal diese mich ja auch stolz gemacht hat. 

Hat es eine Fan-Situation gegeben, die Sie überfordert hat?
Zurbriggen:
Ich verknüpfe diesbezüglich besondere Erinnerungen mit einer Autogrammstunde, die ich 1985 oder 86 für den damaligen Bankverein in Basel gegeben habe. Weil ich mir zu diesem Zeitpunkt nicht vorstellen konnte, dass sich in einer Stadt eine grosse Menge für einen Skifahrer wie mich begeistert, bin ich mit ein paar hundert Autogrammkarten angereist. Mich hat dann schier der Schlag getroffen, als rund 6000 Fans auf mich gewartet haben. Mir war sofort klar, dass ich unmöglich innerhalb einer Stunde so viele Unterschriften geben kann.

Odermatt: Wie hast du dieses Problem gelöst?

Zurbriggen: Ich habe sämtliche vorgeschriebenen Karten verteilt und bin dann wie der grösste Gauner durch die Hintertüre geflüchtet. Ich bin immer wieder beeindruckt, wie spielerisch du mit diesen Menschenmassen umgehst. Als ich hörte, dass du nach deinem Sieg in Adelboden mit dem Fanclub-Bus die Heimreise angetreten hast, habe ich die Welt nicht mehr verstanden.

Odermatt: Das ist alles sehr situativ, ich gehe nicht immer gleich locker mit dem Rummel um meine Person um. Aber nach einem Sieg wie in Adelboden ist das Bad in der Menge logischerweise schöner als nach einem weniger erfolgreichen Wettkampf. 

Pirmin Zurbriggen

Wurde am 4. Februar 1963 in Saas Almagell geboren. Sechs Wochen nach seinem 19. Geburtstag verbuchte er in San Sicario (It) seinen ersten Riesen-Weltcupsieg. Im Winter 1983/84 triumphierte der Hotelier-Sohn erstmals im Gesamtweltcup. 1985 musste er sich am Meniskus operieren lassen («Knie der Nation»). Knapp drei Wochen später gewann er bei der WM in Bormio Abfahrt- und Kombi-Gold, sowie Riesen-Silber. Nach Doppel-Gold (Super-G und Riesenslalom) und Doppel-Silber (Abfahrt und Kombi) bei der WM 1987 in Crans Montana, krönte Zurbriggen seine Karriere 1988 mit Olympia-Gold in der Abfahrt. 1990 trat er nach seinem vierten Gesamtweltcupsieg und 40 Einzelsiegen 27-jährig zurück.

Wurde am 4. Februar 1963 in Saas Almagell geboren. Sechs Wochen nach seinem 19. Geburtstag verbuchte er in San Sicario (It) seinen ersten Riesen-Weltcupsieg. Im Winter 1983/84 triumphierte der Hotelier-Sohn erstmals im Gesamtweltcup. 1985 musste er sich am Meniskus operieren lassen («Knie der Nation»). Knapp drei Wochen später gewann er bei der WM in Bormio Abfahrt- und Kombi-Gold, sowie Riesen-Silber. Nach Doppel-Gold (Super-G und Riesenslalom) und Doppel-Silber (Abfahrt und Kombi) bei der WM 1987 in Crans Montana, krönte Zurbriggen seine Karriere 1988 mit Olympia-Gold in der Abfahrt. 1990 trat er nach seinem vierten Gesamtweltcupsieg und 40 Einzelsiegen 27-jährig zurück.

Zurbriggen: Ich bin mir sicher, dass du mit dem gigantischen Interesse sehr viel besser umgehen kannst als ich damals.

Odermatt: Da bin ich mir nicht sicher. Aber in der ersten Phase von meiner Popularität hat mich am meisten gestört, dass ich die normalsten Dinge auf der Welt nicht mehr tun kann. Und irgendwann ist mir klar geworden, dass ich mir nicht alle diese Dinge wegnehmen lassen will. Ich will weiterhin mit meinen Kollegen in den Ausgang, ich will mit den Kumpels im Sommer ein Stadtfest besuchen und ich wollte eben auch mal den Brünig-Schwinget besuchen. Das habe ich auch getan, danach war für mich aber klar, dass ich dieses Fest nicht mehr besuchen werde. Ich hatte als Zuschauer auf dem Brünig wirklich keine einzige ruhige Minute.

Odermatt muss sich unter Ski-Legenden einordnen
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Vor oder hinter Zurbriggen?Odermatt muss sich unter Ski-Legenden einordnen
Zurbriggen und Odermatt sprechen auch die Schattenseiten der Popularität an.
Foto: Sven Thomann

Grosse Unruhe ist im September in der Ski-Familie aufgekommen, nachdem der Italiener Matteo Franzoso im Abfahrts-Training in Chile durch ein B-Netz donnert und nach einer Kollision mit einem holzigen Schneefangzaun einen Tag vor seinem 26. Geburtstag verstorben ist. Dieses schreckliche Ereignis hat die Sicherheitsdiskussion im Skirennsport neu entfacht. Wie stehen Sie dazu?
Odermatt: Wenn so etwas Schlimmes passiert, fährt das auch mir entsprechend heftig ein. Aber es ist einfach so, dass das Risiko mitfährt, sobald man die Ski anschnallt. Und zwar nicht nur bei uns Rennfahrern im Training oder im Wettkampf, sondern auch für Touristen beim freien Fahren. Und es ist auch so, dass die Sicherheitsvorkehrungen auf den Trainingsstrecken auf unseren Gletschern oder in Südamerika nicht auf dem gleichen Stand sind wie bei den Weltcuprennen. Aber ich fürchte, dass das aus organisatorischen Gründen nicht ändern lässt.

Pirmin, sie haben ihre Karriere im Frühling 1990, ein knappes Jahr vor dem tödlichen Laubahornsturz vom Österreicher Gernot Reinstadler beendet. Was war das schlimmste Erlebnis in ihrer Aktiv-Zeit?
Zurbriggen: Während ich mit meinem Teamkollegen Martin Hangl 1988 den zweiten Lauf des Olympia-Riesenslaloms besichtigte, hörte ich plötzlich einen heftigen Knall. Dann sah ich, wie eine Person in der Team-Bekleidung der Österreicher unter einem Pistenfahrzeug lag. Es war der Teamarzt des ÖSV, welcher diese Kollision nicht überlebt hat und noch an der Unfallstelle verstarb. Das war eine brutale Schocksituation, es läuft mir bis heute eiskalt den Rücken hinunter, wenn ich an diesen Moment denke.

Dennoch haben sie sich danach die Bronzemedaille gewonnen. Andere Rennfahrer haben Sie darum als «Mental-Monster» bezeichnet.
Zurbriggen:
Mir ist in diesem Moment vor Augen geführt worden, wie schnell das Leben vorbei sein kann. Aber als Leistungssportler kommst du immer wieder in Situationen, in denen die psychische Belastung brutal gross ist. Daran bin ich gewachsen. Ich weiss noch genau, wie ich nach diesem schrecklichen Unfall in Calgary mit dem Sessel zum Start hinauf gefahren bin. Kurz nach der Ankunft im Startgelände, hörte ich jemanden nach einem Arzt schreien. Ich zuckte zusammen und dachte: «Mein Gott, was ist denn jetzt schon wieder passiert?» Als ich mich umdrehte, sah ich, dass mein Kollege Martin Hangl kollabiert ist. Er konnte den zweiten Lauf nicht bestreiten, die Erinnerung an den schrecklichen Zwischenfall bei der Besichtigung hat ihn umgehauen.

Ein paar Jahre nach ihren sportlichen Heldentaten haben sich einige Fans von Ihnen abgewendet, weil Sie in einer Illustrierten mit dem Satz «Aids ist eine Strafe Gottes» zitiert wurden. Wie stehen Sie heute dazu?
Zurbriggen:
Ich kann versichern, dass ich das nie so gesagt habe. Und der Journalist, der meinen Wortlaut nicht korrekt zu Papier gebracht hat, hat sich später bei mir entschuldigt und hat danach auch nie mehr als Journalist gearbeitet. Das hat aber nichts an der Tatsache geändert, dass ich in dieser Zeit zahlreiche böse Briefe und Anrufe erhalten haben. Ein Telefonat ist mir in besonderer Erinnerung geblieben.

Zurbriggen enerviert sich wegen einer ganz besonderen Schlagzeile.
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Welches?
Zurbriggen
: Das Gespräch mit einer Frau aus Baden. Sie hat mir gleich gesagt, dass sie selber an Aids erkrankt sei, und hat mich als «riesengrosser Idiot» beschimpft. Es hat ein paar Minuten gedauert, bis ich dann auch zu Wort gekommen bin. Ich habe dieser Frau erzählt, was ich in diesem Interview wirklich gesagt habe. Irgendwann glaubte sie mir. Und gegen Ende dieses Gespräches verriet sie mir, dass sie die Ehefrau des Journalisten sei, welcher die verheerende Aids-Story mit mir gemacht hat.

Marco, sind auch Opfer von einer falschen Zitierung geworden?
Odermatt:
Ich bin bis jetzt glücklicherweise von falschen Schlagzeilen verschont geblieben. Aber was mir schon ein bisschen Sorge bereitet, ist die Entwicklung im Bereich der Künstlichen Intelligenz. Kürzlich ist ein Video aufgetaucht, auf dem zu sehen ist, wie Federica Brignone und ich nach der Kugelübergabe beim Weltcupfinale auf dem Podest herumknutschen. Selbstverständlich handelt es sich dabei um ein Fake-Video. Aber es sieht wirklich täuschend echt aus.

Marco Odermatt ist trotz eines Fake-Videos bestens gelaunt.
Foto: Sven Thomann

Keine Fake-Nachricht ist, dass Marco Odermatt kürzlich im Auftrag der Medienabteilung der FIS zehn Alpin-Legenden platzieren musste. Pirmin Zurbriggen fungiert in den «Odi-Charts» hinter Ingemar Stenmark auf Rang 2. Welche Position nimmt Odermatt im Ranking von Pirmin Zurbriggen ein?
Zurbriggen:
Sicher eine Platzierung in den Top-5. Und ich traue Marco in den nächsten Jahren noch viele grosse Triumphe zu. Gut möglich also, dass er am Ende seiner Karriere in meiner Rangliste den ersten Platz einnehmen wird.

Es gibt ein KI-Video, welches Odermatt und Federica Brignone während der Gesamtweltcup-Siegezeremonie beim Herumknutschen zeigt.
Foto: IMAGO/Imagn Images
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