Es ist wie verhext. Derselbe Athlet, der im letzten Winter mit den Siegen in Madonna di Campiglio, Adelboden und Kitzbühel zum Schweizer Slalom-König avancierte, bleibt in der laufenden Saison trotz starken Abschnittszeiten regelmässig auf der Strecke. Die Rede ist von Daniel Yule (27). Der Walliser verkörperte während Jahren die grösste Sicherheit im Slalom. Zwischen dem 5. März 2018 und dem 2. Februar 2020 ist der Sohn von britischen Einwanderern bloss ein einziges Mal ausgeschieden.
Doch in den letzten drei Rennen hat Yule das Ziel gleich zwei Mal nicht gesehen. Beim ersten Slalom in Flachau lag er bereits nach vier Toren im Schnee. Beim Nachtslalom in Schladming fuhr er am Dienstag wie in besten Tagen. Nur zwei Hundertstel fehlten bei der letzten Zwischen zeit auf den im ersten Lauf entfesselt fahrenden Österreicher Manuel Feller – doch dann der erneute Schock: Yule scheidet nach einem klassischen Einfädler aus und schreit seinen Frust in den verschneiten Nachthimmel.
WM ohne Yule?
Jetzt wirds tatsächlich ernst für den sympathischen 27-Jährigen. Dem erfolgreichsten Slalomfahrer der Schweizer Ski-Geschichte droht das WM-Drama. Den Schweizer Männern stehen beim WM-Slalom vier Startplätze zu. Ramon Zenhäusern ist mit seinem Sieg in Alta Badia gesetzt. An Loic Meillard dürften die Trainer nach seinem vierten Rang in Flachau und dem fünften Platz in Adelboden auch nicht vorbei kommen. Luca Aerni und Tanguy Nef können einen sechsten und einen achten Rang vorweisen. Und Yule? Seine bisherigen Saison-Highlights sind zwei siebte Plätze (Alta Badia und Adelboden). Jetzt bleiben dem Walliser nur noch die beiden Slaloms, die am kommenden Wochenende in Chamonix ausgetragen werden.
Wird Yule bei der WM tatsächlich zuschauen müssen, wenn er in Frankreich nicht mindestens einmal in die Top-6 fährt? Der Österreicher Sigi Voglreiter rüstet als Rennchef von Fischer Yule, Aerni und Nef mit Ski und Schuhen aus. Er sagt zu BLICK: «In meiner Position steht es mir nicht zu, um mich in die Selektionen der Schweizer einzumischen. Aber ich weiss, dass er nach wie vor einen sehr hohen Grundspeed mitbringt und in Schladming vor allem im Steilhang sensationell gefahren ist. Zurzeit geht im einfach das spielerische Skifahren ab, dass ihn im letzten Winter so stark gemacht hat. Er begeht zurzeit Fehler, die er in den letzten Jahren nicht gemacht hat. Doch bei einem Mann mit Yules Klasse kann sich das ganz schnell wieder in eine positive Richtung ändern.»
Zuspruch von Plaschy
Auch Didier Plaschy glaubt nach wie vor ganz fest an Daniel Yule. «Wenn ich Trainer wäre, würde ich im Hinblick auf die WM an Daniel festhalten wie eine Grossmutter am Grossvater. Schliesslich hat er in der Vergangenheit bewiesen, dass er Rennen gewinnen kann» sagt der Oberwalliser, der 1999 bei den Weltcup-Slaloms in Vail und Kranjska Gora triumphierte. Der 47-Jährige legt nach: «Yule verdient nach Zenhäusern und Meillard den dritten Startplatz. Vorausgesetzt, dass Aerni und Nef in Chamonix nicht gewinnen, werden sich die beiden um den vierten Startplatz duellieren.»
Plaschy macht deutlich, warum Nef in der jetzigen Verfassung Yules WM-Platz nicht verdient hat. «Tanguy hat von mir vor dieser Saison enorm viele Vorschusslorbeeren erhalten, nun hat er mich aber in den meisten Rennen enttäuscht. Er begeht praktisch in jedem Lauf einen dummen Fehler. Der berühmte American Spirit, den er sich als Student am College in Dartmouth angeeignet hat, scheint sich bei Tanguy aufzulösen wie ein Tiki Brausewürfel im Wasser...»
ORF-Experte Thomas Sykora (52, 9 Weltcupsiege) betrachtet die Ausgangslage ähnlich wie sein Kollege Plaschy: «Es ist ja nicht so, dass Nef und Aerni die deutlich besseren Leistungen erbracht haben als Yule. Deshalb müssten die beiden in Chamonix meiner Meinung nach aufs Podest fahren, um Daniel den Startplatz streitig machen zu können.» Sykora glaubt, dass im Schweizer Team keiner die bessere WM-Mentalität mitbringt als Yule: «Bei der WM zählt nur hopp oder top. Und dafür ist ein so cooler Typ wie der Daniel besonders geeignet.»
Und was sagt Cheftrainer Tom Stauffer zur heiklen Entscheidung, die er bald treffen muss? Der lässt sich noch nicht aus der Ruhe bringen: «Ich werde mir bezüglich der WM-Aufstellung erst nach den Slaloms von Chamonix Gedanken machen.»