Die Wirtin vom Ägidihof in Innsbruck-Igls ist völlig aus dem Häuschen. In ihrer Gaststube haben zwei ältere, aber ausgezeichnet erhaltene Herren Platz genommen. «Mei, des isch ja unser Klammer Franzi mit dem Russi. Der Bernhard isch immer so fesch Schi gfoarn!»
Bernhard Russi, der im Sommer seinen 68. Geburtstag feiert, nimmt das Kompliment der Wirtin mit einem süsssauren Lächeln an: «Die Ästhetik hat mir gegen den Franz nie etwas genützt. Obwohl ich heute besser aussehe als er, ist Franz der grössere Frauenschwarm. Und obwohl ich schöner Ski gefahren bin, war er meistens schneller ...»
Franz Klammer, der im Dezember 62 wurde, klopft sich lachend auf den Oberschenkel. Und erinnert sich, dass ihm am 5. Februar 1976 einmal das Lachen wegen Bernhard Russi für längere Zeit vergangen ist. Doch der Reihe nach.
Russi und Klammer verlassen nach einem Wiener Schnitzel mit Tiroler Gröstl die gemütliche Gaststube und fahren mit der altehrwürdigen Gondel (Baujahr 1963) hinauf zum Patscherkofel. Dort erinnert Österreichs Ski-Kaiser Franz seinen Schweizer Widersacher an die Ausgangslage von damals: «Im Winter davor und in der Olympia-Saison hatte ich 13 Weltcupabfahrten gewonnen. Ich war der grosse Favorit. Ganz Österreich erwartete von mir beim Heimspiel nur eines – die Goldmedaille.»
Russi nickt: «Ich hatte seit Februar 1973 keine Abfahrt mehr gewonnen und 1972 bereits in Sapporo Olympia-Gold erobert. Deshalb stand ich im Gegensatz zu dir viel weniger unter Druck.» Und mit jedem Training setzte der lockere Urner den Kärntner noch mehr unter Druck. «Spätestens nach dem Abschlusstraining war klar, dass Bernhard die Piste extrem gut im Griff hat. Ich bin immer nervöser geworden.»
In der Zwischenzeit sind Russi und Klammer bei ihrem Spaziergang in die Vergangenheit an der Stelle angekommen, an der 1976 das Starthaus stand. «Hier hat sich kurz vor dem Rennen eine Szene ereignet, die Franz und mich bis heute verbindet», behauptet Russi. «Klammer hatte die Startnummer 15, ich die 3. Kurz vor dem Start kam Franz auf mich zu, gab mir die Hand und sagte: ‹Viel Glück, der Bessere von uns soll gewinnen.› Diese Geste hat mir extrem imponiert und viel Kraft gegeben.»
Russi legte danach auf der total vereisten Strecke eine Zeit vor, die Klammer im Startgelände schier verzweifeln liess: «Ich wollte eigentlich gar keine Information von Russis Fahrt. Dummerweise habe ich den Speaker gehört und wusste, dass Bernhard eine Bombenfahrt gelungen war.»
Bei Klammers Start sass Russi unten im Zielraum mit seinen Teamkollegen auf einem Strohballen und blickte gebannt auf den Zeiten-Monitor. «Franz wäre bei der ersten Rechtskurve fast gestürzt und lag bis zur letzten Zwischenzeit hinter mir.» Während Klammer zum Schlussspurt ansetzte, hatte Russi gemischte Gefühle: «Auf der einen Seite habe ich mir natürlich das zweite Olympia-Gold gewünscht. Die andere Seite von mir ist aber plötzlich zum Klammer-Fan geworden. Ich habe gespürt, dass sich die 50 000 Fans nur eines wünschen – den Sieg von Franz. Mir wurde klar, dass mein Sieg das Happy End in dieser unglaublich dramatischen Geschichte kaputt machen würde.»
Klammer konnte das Blatt auf den letzten Metern dank einer verrückten Linie tatsächlich noch wenden – er gewann mit 33 Hundertstel Vorsprung. Russi rannte sofort auf den Sieger zu. «Bernhard hat sich durch den Menschenpulk zu mir nach vorne gekämpft und mir als Erster gratuliert», erinnert sich Klammer.
Die Helden von damals fahren jetzt mit der Gondel wieder ins Tal. Klammer dreht sich noch mal um: «Jedes Mal, wenn ich in der Gegend bin, sage ich zu diesem Berg: ‹Du hast mein Leben verändert›.» Auch Russi ist mit sich und dem Patscherkofel im Reinen: «Sapporo war für mich vom Resultat her das Grösste. Aber von der Geschichte her stelle ich Innsbruck eben über Sapporo. Ich bin dankbar und glücklich, dass ich bei diesem Olympia-Thriller eine Hauptrolle spielen durfte.»
Kurz vor der Einfahrt in die Talstation zeigt Klammer mit dem Finger auf den Golfplatz. «Eigentlich müssten wir hier einmal eine Runde Golf spielen.» Russi schüttelt sein ergrautes Haupt: «Du bist ein krankhafter Golfer. Obwohl ich vor dir angefangen habe, hast du heute Handicap 8, ich lediglich 11. Wenn ich eines Tages die Nachricht erhalten sollte, dass du gestorben bist, werde ich als Erstes die Frage stellen: An welchem Loch ist der Franz gestorben?»
Eigentlich erübrigt sich diese Frage: Klammer und Russi haben sich mit ihrem Olympia-Duell am 5. Februar 1976 am Patscherkofel unsterblich gemacht.