Bormio am Donnerstag, kurz vor 17 Uhr. Der Sieger der Abfahrt von Beaver Creek, Justin Murisier (32), analysiert im Schweizer Teamhotel gemeinsam mit Superstar Marco Odermatt (27) das Video von Cyprien Sarrazin. Der Franzose hat im ersten Training auf der Stelvio die Bestzeit realisiert. Murisier schüttelt ungläubig den Kopf und sagt: «Es ist wirklich unglaublich, was Cyprien macht. Er fährt ständig am Limit, kürzt immer den Weg ab. Wenn du das machst, ist der Druck auf einen Punkt besonders hoch. Und wenn es an diesem Punkt ein Loch oder eine Kompression gibt, ist es extrem schwierig, diese Kräfte zu kontrollieren. Aber Cyprien scheint jederzeit alles unter Kontrolle zu haben.»
Doch rund 19 Stunden später muss der Walliser vom Zielraum aus mitansehen, wie Sarrazin, zu dem er seit Jahren ein freundschaftliches Verhältnis pflegt, im zweiten Training nach extrem starken Abschnittszeiten kurz vor der Einfahrt in den letzten Streckenabschnitt eben doch die Kontrolle verliert. Der Vorjahressieger gerät beim Sprung in Rücklage und knallt aus grosser Höhe voll auf den Rücken. Danach schlittert er unkontrolliert über die Piste und durchschneidet mit seinen Ski das Sicherheitsnetz.
Der 30-Jährige wird mit dem Helikopter ins Spital geflogen, wo ein subdurales Hämatom diagnostiziert wird. Dabei handelt es sich um eine Hirnblutung, die neurologisch intensiv behandelt werden muss. Je nach Grösse des Hämatoms kann das lebensbedrohlich sein! Sarrazin liegt auf der Intensivstation. Die Ärzte bohren ihm in einer Not-Operation ein Loch in den Schädel, um das Hämatom auszuräumen. Am Samstagmorgen liefert dann der französische Ski-Verband ein erstes Update: «Die Operation ist gut verlaufen», heisst es in einer kurzen Mitteilung auf X. Später ergänzt Rossignol-Chef Stéphane Mougin gegenüber Blick: Sarrazin befindet sich in einem stabilen Zustand. «Nun beten wir, dass das auch so bleibt.»
Im Verlauf des Nachmittags liefert der Verband eine weitere Entwarnung: Sarrazin ist wieder wach und bei Bewusstsein, wie der französische Teamarzt Stéphane Bulle mitteilt. Trotzdem wird der Rossignol-Pilot, der im Vorjahr nicht nur auf der Stelvio, sondern auch auf der Kitzbüheler Streif Marco Odermatt auf den zweiten Platz verwiesen hat, in dieser Saison voraussichtlich kein Rennen mehr bestreiten.
«Das macht es extrem schwierig!»
Der dreifache Gesamtweltcupsieger aus dem Kanton Nidwalden leidet mit seinem grossen Widersacher mit: «Als Athlet will man Bilder, wie die von Cypriens Sturz nicht sehen.» Als kurz darauf auch der Toggenburger Josua Mettler und der Amerikaner Kyle Nagomir an derselben Stelle wie Sarrazin stürzen, werden die Speed-Spezialisten von den Reportern immer und immer wieder mit derselben Frage konfrontiert: Ist die «Stelvio 2024» zu schlecht präpariert? Die erste klare Antwort kommt von Odermatt: «Das wird das schwierigste Rennen des Jahres! Das grosse Problem: 80 Prozent der Piste sind komplett vereist, zwanzig Prozent bestehen aus aggressivem Schnee. Diese Unregelmässigkeit macht es schwierig, das Richtige auf den Ski zu machen. Ja, es ist von Start bis ins Ziel ein Überlebenskampf!» An genau so einem Eis-Aggressivschnee-Übergang ist Sarrazin gestürzt.
An einer anderen Stelle kommt zudem der Italiener Pietro Zazzi (30) zu Fall. Er zieht sich einen Schien- und Wadenbeinbruch zu.
Sarrazins Teamkollege Nils Allègre lässt kein gutes Haar an der Pisten-Crew im Veltlin. «Die Piste ist schlecht präpariert! Es ist kein Respekt vor den Fahrern da, es gehört Tempo rausgenommen. Ich will gar nicht daran denken, dass hier bei den Olympischen Winterspielen 2026 gefahren werden soll.» Österreichs Vincent Kriechmayr hält fest, «dass zwischen der Stelvio und den letzten Abfahrten in Beaver Creek und Gröden ein Unterschied wie Tag und Nacht ist. Während die Pisten in Colorado und im Südtirol wirklich sehr angenehm waren, ist die Stelvio extrem zäh, sie zeigt uns die Grenzen auf».
Von Allmen und Monney nach Brutalo-Landung angeschlagen
Bereits im Training am Vortag haben die Schweizer Youngsters Franjo von Allmen (23) und Alexis Monney (24) schmerzliche Erfahrungen auf der «Stelvio» gemacht – der Berner Oberländer und der Freiburger sind beim «Salto di San Pietro» zu weit gesprungen und haben dabei Blessuren an den Füssen erlitten. Beide werden aller Voraussicht nach dennoch im Rennen an den Start gehen, zumal der San Pietro-Sprung in der Zwischenzeit von FIS-Speed-Direktor Hannes Trinkl abgetragen wurde.
«Das war auch bitternötig», sagt der Bündner Stefan Rogentin (30), der dieses turbulente Abschlusstraining auf dem zweiten Rang beendet. «Im ersten Training hatten wir beim San Pietro einen Luftstand von sechs bis sieben Metern. Und weil viele auf einer Welle gelandet sind, hatte dass einen entsprechend heftigen Zwick im Knie und Rücken zur Folge.»
Und Rogentin ist sich nicht ganz sicher, ob das Problem namens San Pietro im Hinblick auf das Rennen gänzlich gelöst ist: «Nach den üblen Klatschern am Donnerstag ist im Abschlusstraining keiner im vollen Tempo über diesen Sprung gegangen. Ich könnte mir vorstellen, dass dieser Sprung im Renntempo trotz der Entschärfung sehr weit gehen wird.»