Justin Murisier hält im Swiss-Ski-Team einen schmerzhaften Rekord. Der Walliser musste in 15 Jahren zehn Operationen über sich ergehen lassen. Nach sechs Eingriffen am Knie und zwei an der Schulter wurde der 33-Jährige am 27. Mai zum zweiten Mal wegen eines Bandscheibenvorfalls in den OP-Saal geschoben werden.
Die jüngste Verletzung hat dem Speed-Spezialisten, welcher am 6. Dezember 2024 in heroischer Manier die Abfahrt auf der berüchtigten «Birds of Prey» in Beaver Creek gewonnen hat, besonders heftig zugesetzt.
«Nachdem ich in den Tagen zuvor in Andalusien bei meinem spanischen Athletik-Trainer Alejo Hervas gut trainiert habe, verspürte ich plötzlich die wahrscheinlich schlimmsten Beschwerden in meiner Karriere», erinnert sich Murisier. «Diese Schmerzen waren über ein paar Tage derart stark, dass ich bis zu dieser Operation nur noch negativ gedacht habe.»
Murisier hat in dieser Phase auch die Fortsetzung von seiner Rennfahrer-Karriere ernsthaft infrage gestellt. Doch die OP bei seinem Vertrauensarzt in Genf ist so gut verlaufen, dass der gelernte Forstwart in der Zwischenzeit wesentlich zuversichtlicher in die Zukunft schaut.
Der Vergleich mit Odermatt
In der letzten Juni-Woche hat Murisier gemeinsam mit seinem Kumpel Daniel Yule (32) das Kraft- und Konditionstraining in der gemeinsamen Folterkammer in Orsières aufgenommen. Im Bankdrücken meistert der Cousin von William Besse (57) bereits wieder rund 100 Kilo.
«Es ist für mich immer wieder beeindruckend zu sehen, wie schnell sich Justin von seinen Rückschlägen erholt», staunt Yule. Aber Murisier relativiert: «Wenn ich meine aktuellen Kraft- und Ausdauerwerte, mit denen von Marco Odermatt vergleiche, muss ich einsehen, dass ich eine Liga unter ihm bin. Aber zum Glück bleibt mir ja bis zum Abfahrts-Auftakt im Dezember ja noch ein bisschen Zeit, um Terrain gutzumachen.»
Im selben Atemzug erinnert Murisier daran, dass es für eine erfolgreiche Alpin-Karriere eine Eigenschaft braucht, die man sich nicht antrainieren kann: «Wenn du in unserem Sport den angeborenen Instinkt für die richtige Rennlinie nicht mitbringst, nützen dir auch die besten Kraft- und Ausdauerwerte nichts. Und ich habe das Glück, dass mir dieser Instinkt in die Wiege gelegt wurde.»
Der aussergewöhnliche Kämpfer aus dem Val des Bagnes macht aber auch klar, dass er einiges anders machen würde, wenn er noch einmal von vorne beginnen könnte. «Ich habe als junger Rennfahrer ein paar falsche Entscheidungen getroffen, für die ich heute bezahlen muss», gesteht Murisier und wird konkret: «Ich habe mir nach meinen ersten Verletzungen zu wenig Zeit gelassen und bin zu oft mit starken Schmerzen Ski gefahren. Die jungen Athleten agieren heute viel schlauer als ich damals. Sobald sie im Training ein Stechen wahrnehmen, brechen sie ab.»
Film-Dreharbeiten mit Sarrazin
Obwohl Murisier diese Vernunft oft gefehlt hat, darf seine sportliche Laufbahn als filmreif bezeichnet werden. In zwei Monaten wird «Downhill Skiers» über die Kinoleinwände flimmern. Justin Murisier wird in diesem Streifen neben Superstar Marco Odermatt eine tragende Rolle spielen. Die finale Sequenz hat der Head-Pilot vor ein paar Wochen mit Frankreichs «Skidane» Cyprien Sarrazin (30) gedreht. Zur Erinnerung: Der zweifache Kitzbühel-Sieger hat in der Altjahrswoche bei einem Trainings-Crash Bormio eine lebensgefährliche Hirnblutung erlitten.
Murisier verbindet seit Jahren ein freundschaftliches Verhältnis mit Sarrazin. Und beim Film-Dreh in Frankreich hat Cyprien Justin besonders imponiert: «Obwohl er vor einem halben Jahr eine so schwere Kopfverletzung erlitten hat, hinterlässt Cyprien schon wieder einen sehr starken Eindruck. Seine Reaktionswerte sind super. Das Einzige, was ihm Probleme bereitet, ist das Knie. Aber Kniebeschwerden hatte Sarrazin ja schon vor seinem fürchterlichen Sturz in Bormio. Und deshalb wäre ich nicht überrascht, wenn ihm ein starkes Comeback gelingen würde.»
Die erste Abfahrt vom kommenden Olympia-Winter soll am 4. Dezember in Beaver Creek gestartet werden – eben dort, wo Murisier seinen ersten Weltcupsieg eingefahren hat.