Obwohl er mit seinen Männern im letzten Weltcup-Winter serienweise Siege eingefahren hat, ist die Stimmung von Swiss Ski-Riesenslalom-Cheftrainer Helmut Krug seit Wochen betrübt. Es ist die FIS-Vorstandssitzung vom 12. Juni, welche dem gebürtigen Tiroler Sorgen bereitet.
«Wenn der Council bezüglich der Schienbeinschoner die im Mai getroffene Entscheidung vom FIS-Alpin Komitee absegnen sollte, hätte das für Marco Odermatt, Thomas Tumler und Lenz Hächler verheerende Auswirkungen!»
Blick hat sich bei den von Krug angesprochenen Schweizer Ski-Stars umgehört. Tatsächlich ist die Meinung deutlich, was die Schienbeinschoner-Regelung angeht.
Unzählige Schläge aufs Schienbein
Teamleader Marco Odermatt pflichtet seinem Erfolgscoach Krug sofort bei: «Falls der internationale Ski-Verband das Tragen dieser Schienbeinschützer tatsächlich verbieten sollte, wäre das für mich und diverse andere Athleten ein riesen Seich. Sofern sich keine alternative Lösung findet, könnte ich in Zukunft sicher nicht mehr alle Rennen fahren.»
Der regierende Super-G-Weltmeister und Riesen-Olympiasieger Odermatt erklärt, warum für ihn diese Schienbein-Protektoren genauso wichtig sind, wie der Airbag und der Sturzhelm: «Ich habe seit dem Beginn von meiner Weltcupkarriere Probleme mit meiner Schienbeinhaut, welche durch die unzähligen Schläge auf den Pisten und das Verbiegen des Schienbeinknochens stark gereizt wird.»
Die Entzündung sei zeitweise derart heftig gewesen, dass er vor lauter Schmerzen geschrien habe, erklärt Odermatt gegenüber Blick. «Ich habe danach diverse Anpassungen vorgenommen, um dieses Problem in den Griff zu bekommen. Aber nichts hat genutzt, bis ich dank eines Inputs von meinem Nidwaldner Kumpel Reto Schmidiger die orthopädischen Schienbeinschützer erhalten habe.»
Bei Hächler half nicht mal OP-Eingriff
Diese Spezialanfertigung hat auch die Karriere von Riesenslalom-Vize-Weltmeister Thomas Tumler (35) gerettet. «Ich leide seit einigen Jahren unter einer Knochenhautentzündung am Schienbein, was auf unruhigen oder komplett vereisten Pisten zu bösen Schwellungen führt. Meinen ersten Weltcupsieg in Beaver Creek habe ich zwar ohne diesen Spezialschutz herausgefahren, weil die Piste in Colorado kaum Rippen aufgewiesen hat. Aber in Saalbach hätte ich ohne die von Odi empfohlenen Schoner niemals WM-Silber gewinnen können.»
Für Tumler ist klar: In der jüngeren Vergangenheit gab es diverse Rennen, die er ohne Protektoren nicht hätte bestreiten können.
Das Zuger Top-Talent Lenz Hächler hat sich aufgrund von einer chronischen Schienbeinentzündung bereits Haut von seinem Hintern an die lädierte Stelle verpflanzen lassen, die gewünschte Wirkung ist beim Slalom Junioren-Weltmeister von 2024 allerdings ausgeblieben. Deshalb wäre auch der 21-Jährige, der sich mit dem Riesenslalom-Gesamtsieg im Europacup einen Fix-Platz für den nächsten Weltcupwinter gesichert hat, auf einen Schienbeinschutz angewiesen.
Tumler wehrt sich gegen Sarrazin-Argument
Aber warum wollen die hohen Herren vom internationalen Ski-Verband dieses Teil überhaupt verbieten?
Renndirektor Markus Waldner ist genau wie die Funktionäre vom österreichischen Ski-Verband davon überzeugt, dass die mit den Protektoren bekleideten Athleten eine stärkere Kraftübertragung vom Skischuh auf das Schienbein realisieren und dadurch eine schnellere und gleichzeitig gefährliche Rennlinie fahren können. In der Altjahrswoche fühlten sich Waldner und Co. bei der Brutalo-Abfahrt in Bormio in ihrem Urteil bestätigt, als der mit Karbon-Schienbeinschonern ausgestattete Kitzbühelsieger Cyprien Sarrazin (Fr, 30) im Abschlusstraining schwer stürzte und eine lebensgefährliche Gehirnblutung erlitt.
Thomas Tumler lässt dieses Argument aber nicht gelten: «In Bormio sind an derselben Stelle wie Sarrazin mit Josua Mettler und Lars Rösti zwei Schweizer ähnlich übel abgeflogen, obwohl beide keine Schienbein-Protektoren tragen.»
«Das ist eine Trotzreaktion der Österreicher»
Dass die umstrittenen Protektoren auch nicht automatisch zu einer schnelleren Linie verhelfen, belegt das Beispiel von Kroatiens Riesenslalom-Star Filip Zubcic (drei Weltcupsiege), der seine Knie im letzten Winter erstmals damit abdeckte. Ergebnis: Der 32-Jährige fuhr mit den «Odi-Schonern» ausnahmslos am Podest vorbei. Dasselbe tritt auf den überwiegenden Teil von Österreichs Abfahrern zu. «Und deshalb erleben wir jetzt eine Trotzreaktion der Österreicher», glaubt Marco Odermatt. «Die meisten ÖSV-Athleten haben die Schienbeinschoner ausprobiert. Weil sie dadurch nicht schneller geworden sind, fordern sie jetzt ein Verbot.»
Aber für den besten Skirennfahrer der Gegenwart steht fest, dass der Skirennsport durch ein solches Verbot ganz sicher nicht sicherer werden würde: «Das hätte zur Folge, dass zahlreiche Rennfahrer die Wettkämpfe nur noch mit starken Schmerzmitteln bestreiten könnten. Und starke Schmerzmittel wirken sich längerfristig sicher nicht positiv auf die Gesundheit aus.»
Und was ist mit Lindsey Vonns Kniegelenk?
Für Odermatt steht zudem fest, dass die FIS mit der Verbannung der Schienbeinschützer ein riesiges Fass aufmachen würde: «Viel Skirennfahrer fahren seit längerer Zeit mit einem Nierengurt, welcher den Rumpf stabilisiert. Lindsey Vonn startet mit einem künstlichen Kniegelenk, was ihr noch mehr Stabilität verleiht. Warum sollen solche Dinge weiter erlaubt sein, wenn Schienbeinschoner verboten werden?»
Man darf gespannt sein, welche Antwort der FIS-Council am 12. Juni auf diese Frage geben wird.