Es sind Szenen, als wären sie extra für Hollywood geschrieben worden. Lindsey Vonn fährt am Freitag bei der Abfahrt in St. Moritz mit 41 Jahren und einem künstlichen Kniegelenk zu ihrem ersten Weltcupsieg nach ihrem Comeback und avanciert geschlechterübergreifend zur ältesten Weltcupsiegerin der Geschichte.
Für Urs Lehmann (56) ist das Marketing-Gold. «Das sprengt alle Grenzen», schwärmt der neue Boss des Ski-Weltverbands FIS. Er betont, dass Märchen wie dieses oder auch der Aufstieg des Neo-Brasilianers Lucas Pinheiro Braathen (25) essenziell seien für den Skisport: «Wenn wir wirklich international und global sein wollen, sind es genau diese Geschichten, die wir brauchen.» Denn: «So schön es auch ist: Wenn es am Schluss nur noch Schweizer gegen Österreicher sind, dann wird es schwierig.»
Sicherheit hinkt der Entwicklung nach
Doch die filmreifen Szenen von St. Moritz können die düstere Realität dieser Saison nicht überstrahlen. Die Verletztenliste im Weltcup ist lang und trifft das Schweizer Team ins Mark. Mit Lara Gut-Behrami (34), Corinne Suter (31) und Michelle Gisin (32) fehlen drei Leistungsträgerinnen bei Swiss-Ski.
Noch gravierender wiegt der Schatten des Todesfalls von Matteo Franzoso (†25). Der Italiener ist im Herbst im Training tödlich verunglückt. Lehmann räumt selbstkritisch ein, dass sich das Risiko in der Vergangenheit oft schneller entwickelt hat, als die getroffenen Massnahmen. Damit soll nun Schluss sein. «Die Sicherheit der Athleten muss die Top-Priorität sein», sagt der Aargauer.
Verbote sind nötig
Ein zentraler Punkt in Lehmanns Sicherheitsagenda ist der Airbag. Im Rennen ist er heute Pflicht, im Training herrscht oft noch Wildwuchs. «Jeder kann machen, was er will. Davon müssen wir wegkommen», fordert Lehmann. Der Airbag müsse zur Grundausstattung gehören.
Das Problem liegt oft in den falschen Anreizen: Lehmann skizziert das Dilemma junger Athleten, die um einen Start im Weltcup kämpfen. «Der Airbag ist nicht das aerodynamischste Ding dieser Welt. Wenn er nicht obligatorisch vorgegeben ist, dann ist der Anreiz so gross, um die letzten zwei Zehntel auch noch rauszuholen», begründet Lehmann, warum er teilweise noch weggelassen wird. Daher müsse die FIS die Fahrer vor sich selbst schützen und die Ausrüstung immer zwingend vorschreiben.
Tempo nach Vorbild der Formel 1
Diesbezüglich blickt der langjährige Swiss-Ski-Präsident neidisch zur Formel 1, wo dank Wissenschaft fundiert und schnell entschieden werden kann. Bisher dauern Entscheidungsprozesse in den FIS-Gremien oft bis zu zwei Jahre. «Das kann es ja nicht sein», so Lehmann. Die FIS müsse ebenfalls schnell und konsequent agieren können, sonst wird es den Skisport «in der Entwicklung immer hindern». Ein Programm soll deshalb bis zum Frühling Vorschläge liefern. Dabei ist die Rede von weniger aggressiven Skischuhen und strengeren Zertifizierungen für Pisten.
Lehmann wehrt sich dagegen, Superstars wie Lindsey Vonn für das Risiko anderer verantwortlich zu machen, betont aber die Rolle der Trainer. Er vergleicht Athleten mit Rennpferden, die man nicht ungesteuert loslassen darf. «Manchmal muss man den Athleten vor sich selbst schützen», resümiert er. Die Coaches seien hier in der Pflicht, um zu gewährleisten, dass die Athleten verinnerlichen, was die Trainerlegende Karl Frehsner (86) immer sagte: «Fahr, was du kannst – und nicht mehr.»