Darum gehts
St. Moritz, im März 2022: Thomas Tumler befindet sich, sportlich betrachtet, auf «Ground Zero». Im Weltcup hat sich der Bündner in diesem Winter in sieben Riesenslaloms nur zweimal in den Punkterängen klassiert. Der begnadete Techniker kommt in dieser Phase vor allem aufgrund von gravierenden Rückenproblemen nicht auf Touren.
Den Rücktritt erklären will TT aber dennoch nicht. Nach dem achten Riesenslalom-Rang bei den Schweizer Meisterschaften geht der damals 32-Jährige vor Cheftrainer Tom Stauffer auf die Knie, damit ihn dieser nicht aus dem Kader eliminiert. Stauffer gibt dem Samnauner tatsächlich eine allerletzte Chance. Dass Tumler diese Chance genutzt hat, ist stark auf Ramon Zürcher zurückzuführen. Dieser hatte selber Erfahrungen als Skirennfahrer gesammelt – 2017 belegte der Schwyzer bei einer Europacup-Abfahrt im Sarntal hinter dem Österreicher Joachim Puchner den zweiten Rang.
Weil ihm der Aufstieg in den Weltcup dennoch verwehrt blieb, machte er sich nach seinem letzten FIS-Wettkampf 2018 als Athletik-Trainer selbständig. Tumler ist durch eine Schweizer Slalom-Gigantin auf Zürcher aufmerksam geworden: «Ich habe mitbekommen, dass Wendy Holdener über längere Zeit sehr erfolgreich mit Ramon zusammengearbeitet hatte. Da habe ich mir gedacht, dass Ramon wahrscheinlich auch für mich eine sehr gute Option wäre.»
«Thomi ist die nackte Angst durch den Körper geschossen!»
Kurz darauf kam der Stöckli-Pilot erstmals in Zürchers Trainingszentrum in Einsiedeln. «In meinen Augen war Thomi damals auf einem erschreckenden Level», gibt Zürcher zu. «Seine Ausdauerwerte waren zwar gut, doch im Kraftbereich war er weit weg von Gut und Böse.» Tumler nickt: «Bevor ich zu Ramon kam, hatte ich mein Training wegen der Rückenbeschwerden praktisch ohne schwere Gewichte gestaltet.» Zürcher machte Tumler aber schnell klar, dass es so nicht weitergehen könne.
Aber wie kann ein Athlet mit einem lädierten Rücken gefahrlos gewichtige Hanteln meistern? «Ramon hat zuerst mit besonderen Übungen meinen Rumpf stabilisiert», erklärt Tumler. Seinem Übungsleiter ist ein Moment in besonderer Erinnerung geblieben: «Als ich Thomi erstmals zum Kreuzheben mit 50 Kilo aufgefordert habe, ist ihm die nackte Angst durch den Körper geschossen. Heute meistert er in derselben Sparte locker doppelt so viel Gewicht.»
Finanzielle Sorgen
Was kaum jemand weiss: Tumler arbeitete kurzfristig für den Vater seines Coachs. «Nach mehreren erfolglosen Jahren ist mir irgendwann bewusst geworden, dass ich nicht mehr alleine vom Skisport leben kann. Die Arbeit mit Holz hatte schon länger eine besondere Faszination auf mich ausgeübt. Und als ich erfahren habe, dass Ramons Papa eine Schreinerei führt, habe ich ihn im Frühling 2022 gefragt, ob ich bei ihm arbeiten dürfe. Glücklicherweise hat Rolf sofort Ja gesagt.»
Zwischen Mai und Juli installierte Tumler nach dem Athletik-Training am Vormittag für die Schreinerei Zürcher Küchen und transportierte Waren. Mittlerweile kann der 35-jährige Swiss-Ski-Teamsenior wieder ganz gut vom Skirennsport leben. Im letzten Winter hat Tumler beim Riesenslalom in Beaver Creek seinen ersten Weltcupsieg eingefahren und bei der WM in Saalbach Silber gewonnen. «Ohne die genialen Trainingsmethoden von Ramon und die Unterstützung wäre das alles nicht möglich gewesen», sagt Tumler voller Dankbarkeit. Zürcher freut sich nicht nur über die starken Trainings- und Wettkampfleistungen, die sein Schützling seit ein paar Jahren konstant abliefert. «Im letzten Frühling ist Thomi nach einer dreiwöchigen Pause mit einem breiten Smile ins Training gekommen. Er war sichtlich glücklich, dass er das Training endlich wieder aufnehmen konnte. Dieser Moment hat auch mir als Trainer unglaublich gutgetan.»
Die Lösung des grossen Problems
Kurzfristig ist den beiden das Lachen aber vergangen. Grund: Die FIS hat im Juni das Tragen von Schienbeinschonern verboten. «Wenn die FIS an diesem Verbot festhält, kann ich meine Karriere beenden», sagte Tumler damals der Verzweiflung nahe zu Blick. Hintergrund: Tumler leidet seit Jahren unter einer starken Knochenhautentzündung. Deshalb hat er die Schienbein-Protektoren nie getragen, weil sie eine schnellere Rennlinie ermöglichen, sondern um seine Haut zu schützen. Zum Glück haben die Entscheidungsträger im neuen Reglement bezüglich dieser Protektoren ein Schlupfloch eingebaut. Die Präzisierung des Reglements sagt, dass ein Zusatzteil fix mit dem Skischuh verbunden sein muss. Das heisst: Wenn das Material im Zielraum kontrolliert wird, dürfen keine separaten Teile aus dem Skischuh herauskommen.
Deshalb hat Tumler genau wie Marco Odermatt und Lenz Hächler den Schienbein-Protektor im Schuh fixiert. «In den Trainings bin ich mit dieser Konstruktion sehr gut zurechtgekommen.» Oder anders ausgedrückt: Tumler und seine hochkarätigen Trainingskollegen sind richtig heiss auf den Weltcup-Auftakt in Sölden.