Kein anderer Schwinger kennt sich mit steilen Aufstiegen besser aus als Kilian Wenger. Vor sieben Jahren hat der Diemtigtaler am Eidgenössischen in Frauenfeld kurz nach seinem zwanzigsten Geburtstag in sensationeller Manier den Thron des Schwingerkönigs erobert. Und weil ein Monarch nun einmal besondere Privilegien geniesst, durfte King Kilian auch schon mit einem FA-18-Kampfjet der Schweizer Armee mitfliegen.
Mit entsprechend breiter Brust marschiert Wenger über den Flugplatz Birrfeld im aargauischen Lupfig. Hier hat sich der mittlerweile 27-Jährige mit einem der genialsten Kunstflug-Piloten der Schweiz verabredet. Sein Name: Urs Vogelsang.
Vogelmensch Vogelsang jagt Kilian schon bei der Begrüssung einen ziemlichen Schock ein. «Du wirst hier ganz andere Belastungen erleben als in einem Kampfjet», sagt Vogelsang schmunzelnd und liefert das passende Bespiel dazu: «Mein Vater hatte vor ein paar Jahren einen amerikanischen FA-18-Piloten auf dem Passagiersitz seines Kunstflugzeugs. Nach zwanzig Minuten war der Kollege aus den USA derart kaputt, dass er danach einen Tag flach lag.»
Vogelsang Junior will nun mit einem Flugzeug, dass übrigens Vogelsang Senior gebaut hat, auch dem bärenstarken Wenger die Grenzen aufzeigen.
Zur Sicherheit zeigt Urs kurz vor dem Abflug Kilian schon einmal, wo er die Kotztüte findet… Dann geht’s los.
Die 650 Kilo schwere Maschine hebt mit dem 108 Kilo schweren Schwinger an Bord ab. Die Startphase verläuft ruhig, doch nach gut drei Minuten packt Vogelsang einen ersten Looping aus und fliegt danach eine klassische Rolle.
Diese Grundfiguren können Wenger noch nicht wirklich erschüttern, aber wenige Minuten später beginnt es auch in Kilians Magen so richtig zu rumoren weil Urs seinen von einem sechs Zylinder Motor angetriebenen Vogel senkrecht hochzieht und danach genau so senkrecht fallen lässt.
Dabei wiederspiegelt dieses Manöver den Karrieren-Verlauf von Wenger. Nach seiner Krönung sackte er bei den folgenden grossen Wettkämpfen böse ab. Am Unspunnen 2011 sowie an den Eidgenössischen 2013 und 2016 war der Modelathlet jeweils bereits nach zwei Gängen geschlagen. Und nach dem Berner Kantonalen 2014 und dem Innerschweizerischen 2015 musste er die Heimreise sogar ohne Kranz antreten.
Nun fühlt sich Wenger auf seinem Platz in der «Air Vogelsang» aber noch schlechter als nach einer Pleite im Sägemehl. Der Pilot hat den atemberaubenden Sturzflug zwar meisterhaft abgefangen. Dafür reiht der ungekrönte König der Schweizer Lüfte eine Kunstfigur an die andere und setzt dann auch noch zu einem spektakulären Rückenflug an. Zu viel für Kilian. Er klönt in den Funk: «Wenn du so weiter machst, muss ich tatsächlich nach der Kotztüte greifen.»
Vogelsang zeigt Erbarmen und setzt zum ruhigen Heimflug an. Nach rund zwanzig Minuten zwischen Himmel und Hölle hat Wenger wieder festen Boden unter den Füssen. Der Brechbeutel ist zwar jungfräulich geblieben, die Knie des 19-fachen Kranzfestsiegers sind aber auch zehn Minuten nach der Landung immer noch ziemlich weich. «Dieses Aktion mit Urs war mindestens dreimal heftiger als mein Flug mit der F/A-18», hält Wenger fest. Dann verneigt sich der König vor dem Kunstflug-Piloten: «Es ist ganz grosse Klasse, was du in der Luft aufführst. Nun brauche ich zwar etwas Erholung, aber nach dem Unspunnen würde ich sofort wieder mit dir fliegen.»
Es spricht auch einiges dafür, dass Wenger bereits am Unspunnen zum nächsten Höhenflug ansetzt. Fakt ist: Kilian hat in diesem Jahr seine stärksten Leistungen seit 2010 gezeigt. Im Schlussgang des Berner Kantonalen hat der gelernte Zimmermann und Metzger zum ersten Mal in seiner Karriere Christian Stucki besiegt.
Der Frauenschwarm wirkt vor allem im Kopf stärker als in den Jahren zuvor: «Es hat in der Vergangenheit viele Wettkämpfe gegeben, in denen ich wie blockiert war, weil ich bei jedem Zug die riesige Erwartungshaltung der Leute gespürt habe. Aber jetzt habe ich ein Alter erreicht, in dem ich besser mit diesem Druck umgehen kann. Und ich schwinge jetzt in erster Linie für mich selber.»
Das Abenteuer mit Urs Vogelsang dürfte Kilian Wenger noch einmal zusätzlich beflügelt haben.