Herr Roschi, werden Sie heute gelegentlich noch «der Zaunkönig» genannt?
David Roschi: Nein, schon seit Jahrzehnten nicht mehr.
Wie kam es damals zu diesem Spitznamen?
Lassen Sie es mich so formulieren: Ich war früher mit dem Auto gerne rassig unterwegs, und da kam es schon mal vor, dass ich leicht von der Strasse abkam und dabei den einen oder anderen Zaun hier im Simmental touchiert habe. Es kam aber nie jemand zu Schaden, und ich flickte die Zäune jeweils eigenhändig wieder zusammen. Alles halb so wild.
Wie wuchsen Sie auf?
Als Sohn eines Bergbauern in Oberwil auf 1000 Metern über Meer. Wir hatten noch kein fliessendes Wasser, aber 200 Meter vom Hof entfernt gab es einen Brunnen und neben dem Hof ein Plumpsklo. Das war damals normal und hat meinen Geschwistern und mir bestimmt nicht geschadet. Nur der Schulweg von einer Stunde war halt ein bisschen lang.
Machten Sie nach der Schule eine Ausbildung?
Nein, nach den neun Schuljahren arbeitete ich einfach als Zimmermann, obwohl ich keine Lehre gemacht hatte. So schlecht war ich dabei wohl nicht, denn das eine oder andere Haus, an dem ich beim Bau mithalf, steht noch heute.
Der 78-Jährige ist der älteste noch lebende Schwingerkönig. Er gewann während seiner Karriere 58 Kränze, siegte 1970 auf dem Brünig und 1973 auf der Rigi und wurde 1972 in La Chaux-de-Fonds Schwingerkönig. Er ist verheiratet mit Annegret, dreifacher Vater, elffacher Opa und lebt in Oey-Diemtigen BE.
Der 78-Jährige ist der älteste noch lebende Schwingerkönig. Er gewann während seiner Karriere 58 Kränze, siegte 1970 auf dem Brünig und 1973 auf der Rigi und wurde 1972 in La Chaux-de-Fonds Schwingerkönig. Er ist verheiratet mit Annegret, dreifacher Vater, elffacher Opa und lebt in Oey-Diemtigen BE.
Wie wurde aus Ihnen ein Schwinger?
Mein Vater war nie Schwinger, hat sich aber dafür interessiert und alles, was in den Zeitungen darüber stand, gelesen. Irgendwann fingen mein vier Jahre älterer Bruder und ich mit dem Schwingen an. Für mich war das super. Ich musste mich richtig anstrengen, um gegen ihn bestehen zu können, und wurde dadurch immer besser.
Ihr erstes Schwingfest, an dem Sie teilnahmen, verlief aber nicht erfreulich.
Das stimmt. Ich verlor alle Gänge. Rückblickend betrachtet wäre es damals schon möglich gewesen, dass ich danach aufgehört hätte, aber ich war zu diesem Zeitpunkt schon mit Leib und Seele Schwinger und liess mich von den Niederlagen nicht beirren.
Wie sah damals Ihr Training aus?
Als Zimmermann und Bauer war ich körperlich topfit. Das Tragen der Strohballen war mein perfektes Krafttraining. Ich trug jeweils in jeder Hand einen Ballen, die Arme waagrecht ausgestreckt, und lief so vom Tenn rüber in den Stall zu den Kälbern.
Das Training zahlte sich aus. 1972 wurden Sie in Abwesenheit des grossen Favoriten Ruedi Hunsperger in La Chaux-de-Fonds Schwingerkönig.
Kurz vor dem ESAF starb Ruedis Vater. Deshalb wollte er auf eine Teilnahme verzichten. Ich versuchte ihn dann in einem persönlichen Gespräch noch vom Gegenteil zu überzeugen, weil wir Berner ihn gebraucht hätten, doch er blieb bei seiner Entscheidung. Danach war für viele klar, dass Karl Meli in La Chaux-de-Fonds seinen dritten Königstitel holen wird.
Und Sie? Glaubten Sie an sich?
Ich war in jenem Jahr gut drauf, schlug zuvor beim Oberländischen auf dem Brünig Gasser Peter, was sonst niemand geschafft hat. Vor dem ESAF hatte ich einen grossen Wunsch: Bei der Rangverkündigung wird jeweils in einer Viererkolonne in die Arena gelaufen. Mein Ziel war es, dabei in der vordersten Reihe zu stehen.
Das Fest begann mit Schnee.
Das stimmt, am Samstagmorgen herrschte ein richtiges Hudelwetter, mit Schnee und kalten Temperaturen. Im vierten Gang traf ich dann auf Meli. Das war ein richtiger «Fotzelgang», wir stellten.
Nach dem ersten Tag war der Königstitel zum Greifen nah. Wie war die Nacht auf Sonntag?
Alle übernachteten in einer Turnhalle. Der ganze Boden war voller Matratzen. Meine lag an einer Wand, dahinter eine Tür, die in eine Besenkammer führte. Ich sah, dass meine Matratze darin genau Platz hatte. Also schlief ich in der Besenkammer und zwar ausgezeichnet.
Im Schlussgang bekamen Sie es mit dem Bieler Metzger Karl Bachmann zu tun. Es gibt Leute, die behaupten bis heute, dass Sie schon auf dem Rücken lagen.
Das stimmt nicht. Ich war zwar zwei-, dreimal in grossen Schwierigkeiten, doch um den Ring verteilt standen ja vier Kampfrichter plus der Obmann. Hätte ich auf dem Rücken gelegen, hätte das bestimmt einer bemerkt. Rückblickend betrachtet war der Schlussgang aber mein schlechtester Kampf in La Chaux-de-Fonds. Trotzdem reichte es zum Titel.
Und plötzlich waren Sie König. Wie gingen Sie mit dem ganzen Rummel um?
Bei meiner Rückkehr ins Simmental wurden mitten auf der Strasse Feuer entzündet, die richtige Löcher in den Asphalt brannten. Und das vor den Augen der Polizei, die das aber nicht interessiert hat. Danach ging ich alleine für ein paar Tage ins Südtirol, um dem ganzen Rummel zu entfliehen.
Reich wurden Sie mit dem Titel aber nicht, oder?
Nein, ich erhielt den Muni, der 4000 Franken wert war. Und ich hätte dank eines Sponsors einen Opel gratis fahren dürfen, doch der Verband legte sein Veto ein. Indirekt profitierte ich aber dennoch vom Königstitel.
Wie?
Zusammen mit meiner Frau führte ich in Oey-Diemtigen ein Eisenwaren- und Haushaltsgeschäft. Nach meinem Königstitel besuchten uns viele fremde Leute im Geschäft. Manche davon kauften etwas bei mir ein, obwohl sie es gar nicht brauchten. Und ich konnte sehr viele Glocken und Treicheln mit schönen Riemen für Schwing- und Schützenfeste oder für Viehausstellungen liefern. So habe ich trotzdem stark vom Königstitel profitiert.
Hat es Sie gestört, dass sich damals mit Schwingen kaum etwas verdienen liess?
Nein, das war halt so. Nur als ich nach meinem Brünig-Sieg 1970 bloss ein Couvert mit 300 Franken drin erhielt, fand ich das etwas mickrig.
Heute können Schwinger richtig viel Geld verdienen. Finden Sie das gut?
Da muss ich ein bisschen aufpassen, um mich nicht unbeliebt zu machen. Dass Schwinger heute nur noch halbtags werken, find ich nicht gut. Wenn die heutigen Schwinger unbedingt Profis sein wollen, dann sollen sie doch nach Paris oder London gehen und dort eine andere Sportart ausüben.
Wie schauen Sie generell auf den Schwingsport?
Dass manche Schwinger mittlerweile wegen all ihren Sponsoren wie Litfasssäulen aussehen, stört mich. Und auch die Tatsache, dass wir früher noch Schwünge gezeigt haben, die man mittlerweile gar nicht mehr sieht. Das ist schade.
Sie haben drei Kinder. Ihr Sohn Ruedi ist auch Schwinger. Was wäre gewesen, wenn Ihre beiden Töchter Lea und Dunja ebenfalls geschwungen hätten?
Ganz ehrlich? Richtig Freude daran hätte ich nicht gehabt. Für mich ist das Schwingen ein Männersport.
Ich möchte mit Ihnen auch noch über zwei schwierige Ereignisse in Ihrem Leben reden. Auf einer Reise nach Tunesien sollen Sie mal um Ihr Leben gefürchtet haben.
Naja, ganz so schlimm war es nicht. Die Schweiz exportierte damals 90 Stück Braunvieh nach Tunesien. Zuerst ging es mit der Bahn nach Marseille und von dort dann mit dem Schiff nach Afrika. Das war kurz vor Weihnachten, das Meer war unruhig, es hat so richtig «gfuerwerket», und ich bin in der Kajüte hin- und hergeflogen. Die Kühe waren im Unterdeck. Als ich nach ihnen schaute, fielen sie übereinander und lagen kreuz und quer. Da sie mit Stricken angemacht waren, war das sehr gefährlich, sie hätten so sterben können. Zum Glück konnte ich im letzten Moment die Stricke noch lösen.
Das zweite schwierige Ereignis war Ihr Herzinfarkt 2024.
Ich wollte auf dem Rossberg in Oberwil spazieren gehen. Doch plötzlich wurde ich immer müder und hatte mitten auf der Brust heftige Schmerzen. Zum Glück schaffte ich es noch zurück ins Bergrestaurant. Dort sass einer, mit dem ich einst gemeinsam den Militärdienst gemacht hatte. Er wollte mit mir anfangen zu plaudern. Da sagte ich ihm nur: «Alles schön und gut, aber jetzt müsst ihr den Notruf wählen, sonst sterbe ich.» Dann kam der Helikopter und flog mich direkt ins Inselspital Bern. Hätte ich es damals nicht noch zurück ins Restaurant geschafft, wäre ich heute nicht mehr hier.
Wie geht es Ihnen heute?
Gut, ich kann nicht klagen. Ich gehe viel laufen und Velo fahren, und ich jasse gerne und lese viel.
Was lesen Sie?
Viele Geschichtsbücher. Mein erstes Buch, das ich als Kind las, war übrigens «Beresina», das von Napoleons Feldzug 1812 nach Russland handelt.
Apropos Russland. 2015 verteidigten Sie in einem Artikel in der «Berner Zeitung» den russischen Präsidenten Wladimir Putin. Würden Sie das heute immer noch tun?
Natürlich, mir macht Putin weniger Angst als all die europäischen Staatsmänner und die Journalisten mit ihrer einseitigen Berichterstattung und ihrer Hetzerei gegen Russland. Mir kommt es vor, dass manche es nicht erwarten können, bis das Ganze in einem Dritten Weltkrieg endet. Würde das passieren, wäre nicht in Russland oder in den USA das Schlachtfeld, sondern einzig und alleine in Europa. Ich möchte nicht, dass es so weit kommt.
Ein Grossteil der Experten sieht das völlig anders. Warum verteidigen Sie Putin noch immer?
Weil Putin nicht für all das Übel auf dieser Welt verantwortlich ist. Der Westen hat einen Grossteil dazu beigetragen. Was Putin macht, hat seine Berechtigung. Er will keine Atomraketen von den USA und den Nato-Staaten an der Grenze zu Russland stationiert haben. Deshalb legt Putin Wert auf eine neutrale Ukraine. Wie würde wohl Amerika reagieren, wenn Russland vor Florida Atomraketen stationieren würde?
Ist das Ihr Ernst?
Ja, wäre ich Russe, würde ich Putin wählen. Aus meiner Sicht ist er für Russland die beste Wahl. Natürlich ist ein Krieg nie in Ordnung, dafür braucht es aber immer mindestens zwei Parteien. Es ist ein Fakt, dass die USA und Europa die Ukraine aufgewiegelt haben. Ich hoffe, dass der Konflikt endlich zu einem friedlichen Ende führt und dass das sinnlose Sterben Hunderttausender junger Leute aufhört.
Wie sähe denn für Sie die Lösung zur Beendigung dieses Kriegs aus?
Es ist sicherlich keine Lösung, immer mehr Waffen in die Ukraine zu liefern. Solange der Westen Waffen schickt, hört der Krieg erst auf, wenn alle tot sind, denn jeder Normaldenkende weiss doch, dass Russland diesen Krieg nicht verlieren kann und dass die Ukraine diesen Krieg nicht gewinnen kann. Deshalb macht dieser Krieg keinen Sinn. Ich kann das echt nicht verstehen: Der Westen versucht einen Vollbrand mit Benzin zu löschen. Das ist richtig dumm. Einen Hoffnungsschimmer gibt es aber.
Welchen?
Donald Trump. Wäre ich Amerikaner, hätte ich auch ihn gewählt. Ob euch das passt oder nicht!