Reusser liebt ihren Coach
«Es ist wirklich eine spezielle Lovestory»

Marlen Reusser (34) ist bereit. Bereit, um im WM-Zeitfahren um Gold zu kämpfen – auch wenn die Vorbereitung nicht ideal war. Henrik Werner (42) wird wie immer da sein – als Trainer und als Freund.
Publiziert: 17:03 Uhr
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Aktualisiert: 17:14 Uhr
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Seit fast vier Jahren sind Marlen Reusser (l.) und ihr Coach Hernik Werner (r.) ein Paar.
Foto: GABRIEL MONNET

Darum gehts

  • Marlen Reusser und Henrik Werner: Eine besondere Liebesgeschichte im Radsport
  • Reusser trainiert in Andorra, um sich auf Wettkämpfe zu konzentrieren
  • Bernerin kann in Ruanda erstmals Weltmeisterin werden – einen Tag nach ihrem 34. Geburtstag
Die künstliche Intelligenz von Blick lernt noch und macht vielleicht Fehler.
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Mathias GermannReporter Sport

Ihre Liebe begann mit einem Ananas-Shirt. Wie bitte? Das ist überspitzt formuliert, klar – aber nicht falsch. «Wir hatten 2019 bei einem Rad-Team, bei dem ich arbeitete, ein Zeitfahrtraining organisiert. Da kamen auch neue Fahrerinnen und Fahrer. Alle waren super aerodynamisch angezogen, mit hautengen Trikots. Aber nicht Marlen. Sie stand da und trug ein Baumwollshirt mit einer Ananas drauf», erzählt Henrik Werner schmunzelnd.

Wen der 42-jährige Velo-Coach mit Marlen meint, ist klar: Marlen Reusser (34), seine Partnerin. Diese erste Begegnung wird keiner der beiden je vergessen. «Marlen kam als solche Persönlichkeit daher. Sie war 27 Jahre alt und eine Quereinsteigerin – man merkte, dass sie nicht in einer Rad-Blase kommt», so Werner. Und Reusser meint: «Wie wir zusammengekommen sind, da müsste man einmal ein Buch schreiben. Es ist eine wirklich spezielle Lovestory.»

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Als die beiden über ihre erste Begegnung sprechen – dazu später mehr –, sitzen sie in ihrer gemeinsamen Wohnung in Andorra La Vella. Es ist Ende August. Reusser hat soeben die Tour de France aufgegeben, eine Lebensmittelvergiftung setzte sie schachmatt. Und auch jetzt ist sie alles andere als fit. «Eine Grippe. Henni hat sie mir weitergegeben», so Reusser. 

1,80 Meter, 66 Kilo und ein Motor wie kaum eine andere

Böse ist sie Werner natürlich nicht. Fakt ist aber auch: Nach ihrem Sieg bei der Tour de Suisse folgte ein Malheur dem nächsten. Die Bernerin wurde krank und beendete den Giro dennoch als Zweite. Dann ass sie etwas Schlechtes und gab die Tour de France schon nach der ersten Etappe auf. Darum stellt sie vor der WM in Ruanda, dem Saisonhöhepunkt, klar: «Ich werde in Kigali weder perfekt vorbereitet noch in Bestform sein. Das regt mich auf. Aber es gewinnt nicht immer die Frau mit der besten Form. Ich wäre also nicht überrascht, wenn es trotzdem reichen würde.»

Nicht nur Reusser geht es so. Niemand wäre überrascht, wenn die Bernerin aus Hindelbank beim WM-Einzelzeitfahren Gold gewinnen würde. Nach Silber (2020 und 2021) sowie Bronze (2022) ist sie reif für den grössten Erfolg ihrer Karriere – gestörte Vorbereitung hin oder her. Dafür ist ihre Klasse im Kampf gegen die Uhr schlicht zu gross.

Neben dem vielleicht grössten Motor aller Radprofis kommt dazu, dass sich Reusser in den Anstiegen in den letzten Jahren massiv verbessert hat. Trotz ihrer 1,80 Meter und 66 Kilo kraxelt sie, als wäre sie eine Bergziege. Die Folge? Der 31,2 Kilometer lange Parcours mit drei Steigungen und total 460 Höhenmetern passt ihr wie die Faust aufs Auge. 

«Ich weiss, dass das egoistisch ist»

Darauf, dass Reusser wie bei der WM 2023 mitten im Rennen aufgibt – damals war sie mental nicht auf der Höhe –, sollte sich die Konkurrenz nicht verlassen. «Ich bin super motiviert und weiss, dass ich Weltmeisterin werden kann», stellt sie klar. Sollte Reusser das berühmte Regenbogentrikot gewinnen, wäre dies der erste Zeitfahrtitel einer Schweizerin seit Karin Thürig 2005. Abgerundet würde das Ganze durch die Tatsache, dass die WM erstmals in ihrer 100-jährigen Geschichte in Afrika stattfindet – ein sporthistorischer Anlass.

Deshalb hat Marlen Reusser im Zeitfahren aufgegeben
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Mit dem Konjunktiv kann sich Reusser nichts kaufen. Das ist ihr bewusst. So oder so ist klar: Egal was passiert, wird Werner weiterhin zu ihr stehen – jubelnd oder tröstend. «Henni gibt mir sehr viel. Ich verbringe oft sehr viel Zeit am Stück mit ihm, dann sehen wir uns aber wieder wochenlang nicht. Er ist mein emotionaler Partner und mein bester Freund», sagt sie. Wir sind zurück im August und in Andorra. Seit Anfang 2025 wohnen Reusser und Werner in einer schmucken, modernen Wohnung in La Vella. «Hier dreht sich alles um den Radsport. Trainieren, Duschen, Essen, Trinken, Erholen, Schlafen.»

Tönt langweilig? Vielleicht. Doch genau darum geht es. «Ich bin eine sehr soziale Person. Wäre ich daheim in Hindelbank, würden mich Familie und Freunde gerne treffen. Und ich auch sie! Aber ich bin an einem Punkt in der Karriere, wo ich fast alles dem Velofahren unterordne. Weil ich überzeugt bin, dass ich mein Potenzial noch nicht ausgeschöpft habe. Ich weiss, dass das egoistisch ist, aber meine Liebsten verstehen mich. Hier muss ich nicht Nein sagen und enttäusche so niemanden. Es gibt hier schlicht keine Ablenkung.» Fast keine. Einmal seit ihrem Einzug im Januar waren Reusser und Werner auf einer Schneeschuhtour, und kürzlich besuchten sie den Cirque du Soleil, der in La Vella gastierte. «Das wars dann aber auch schon», so Werner. 

Werner nennt Reusser auch «Pfiff auf Zack»

Wir betreten mit ihm den Balkon. Ein Kaktus, drei weitere Topfpflanzen, ein riesiger Kran nebenan. Es wird munter gebaut. Unter uns fahren drei Velofahrer von Red-Bull-Bora-Hansgrohe vorbei – es ist das Team, bei dem Werner sieben Athleten betreut. «Allein in unserem Block leben mehrere Radprofis. Eine Teamkollegin von Marlen ist gleich nebenan – wenn sie bäckt, bringt sie ihr ein Brot rüber», so Werner. Er schätzt, dass gegen 200 Berufsradfahrer das kleine Land zwischen Frankreich und Spanien zu ihrer neuen Heimat gemacht haben. Nicht ohne Grund. Auf 1000 Metern über Meer gelegen, gibt es rund um La Vella gute Strassen und Berge – viele Berge. «Es gibt eigentlich keinen flachen Meter», so Werner. Das Trainingsgebiet sei schlicht ideal. Dennoch: «Für immer bleibt hier kaum jemand. Spätestens beim Karriereende gehen alle nach Hause», so Werner. 

Klare Aufteilungen, wer putzt, kocht und wäscht, haben Reusser und Werner nicht. «Wenn etwas gemacht werden sollte, wird es gemacht – einfach so», erzählt Werner. Er gibt zu, dass Reusser viel mehr Dinge auf einmal erledigt als er. «Das Wort Multitasking wurde wohl für Marlen erfunden», meint er schmunzelnd – auch deshalb nennt er sie zuweilen «Pfiff auf Zack». 

Kein Olympia, keine Heim-WM: Long Covid warf Reusser zurück

Man merkt es nicht nur, sondern spürt es auch, wenn Werner meint: «Ich bin stolz auf Marlen.» Dass sie es im Radsport bis in die Weltelite geschafft hat, ist nicht selbstverständlich – erst mit 25 begann sie ernsthaft zu trainieren. «Wer schon einmal zwischen 25 und 30 versucht hat, etwas ganz Neues anzufangen, weiss, wie schwierig das ist», so Werner. Doch Reusser lernte schnell – auch weil die Neugierde sie seit ihrer Kindheit auszeichnet. Ob in der Schule, als Violinistin, Präsidentin der Jungen Grünen in Bern oder beim Medizinstudium.

Nach einigen Jahren als Assistenzärztin bei der Chirurgie entschied sie sich vor sechs Jahren dazu, den Kittel für den Velo-Dress einzutauschen. Sie gab damit einen gut bezahlten Job und eine sichere Stelle auf für ein neues, unbekanntes Abenteuer. «Ich mag Veränderungen. Das war schon immer so», bestätigt Reusser.

Die Erfolge stellen sich rasch ein. Reusser wurde drei Mal Europameisterin im Zeitfahren, dazu kamen WM- und Olympiasilber. Es gab aber auch Rückschläge. Der heftigste: 2024 litt sie so stark an Long Covid, dass Olympia in Paris und die WM in Zürich unmöglich wurden. «Ich wusste nicht, ob ich überhaupt je wieder Velo fahren würde», so Reusser. 

Im Regen von Mallorca kamen sie sich näher

Doch wie ging es eigentlich weiter nach der ersten Begegnung mit dem Ananas-Shirt? Es ist an der Zeit, dies zu klären. «Die Sympathie war 2019 sofort da, als ich Marlen sah», sagt Werner. Dennoch zogen zwei Jahre ins Land, ohne dass etwas zwischen ihnen lief – weder beruflich noch privat. Dann klingelte Werners Telefon. Albasini, der damals Reusser trainierte, meinte: «Ich habe den passenden Job für dich.» Was er meinte, war klar: Werner sollte seinen Schützling als Coach übernehmen.

Zwei Tage später stand Reusser bei Werner auf der Matte – und kurz darauf trainierten sie in Mallorca. «Dort schüttete es fast ununterbrochen wie aus Kübeln. Wir fuhren trotzdem täglich vier oder fünf Stunden mit dem Velo und fanden es grossartig.» Rückblickend sei dies entscheidend gewesen, so Reusser. «Wir trafen uns zu einer Zeit, als die Wetterbedingungen auf Mallorca so schlecht waren wie seit Jahren nicht. Doch genau das war ideal. Denn wir merkten, dass uns nichts störte – nicht der Regen, auch nicht die Müdigkeit, der Hunger oder sonst etwas. Einfach nichts. Es war schlicht schön, mit Henni zusammen zu sein.» Der Rest ist Geschichte – sie verliebten sich und sind seit fast vier Jahren ein Paar.

Rücktritt? Reusser sagt, wann es so weit ist

Am Samstag feiert Reusser ihren 34. Geburtstag. Wie lange sie noch weiterfährt, ist unklar. Beim spanischen Movistar hat sie einen gültigen Vertrag bis Ende 2027. «Es ist super, mir gefällt es richtig gut», sagt sie. Auch die Olympischen Spiele 2028 in Los Angeles (USA) reizen sie. «Ich höre auf, wenn ich denke, dass ich alles erreicht habe. Oder wenn ich nicht mehr vorwärtskomme, weil ich mein ganzes Potenzial ausgeschöpft habe. Das ist momentan noch längst nicht der Fall.» 

Die eine oder andere Konkurrentin wird bei diesen Worten aufhorchen. Mit Reusser ist weiterhin zu rechnen – auch jetzt, bei der WM in Ruanda.

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