Fabian Cancellara fährt seine elften Weltmeisterschaften. Einmal mehr gehört er zu den ganz grossen Favoriten. Rang vier in Kopenhagen (2011) ist sein bisher bestes WM-Ergebnis im Strassenrennen.
Er muss sich beeilen, will er nach Oscar Camenzind (1998 in Valkenburg) als vierter Schweizer Profi-Weltmeister werden. Oder seit Markus Zberg (1999 Silber in Verona) endlich eine Medaille holen. Mit 33 Jahren läuft ihm die Zeit davon.
Es muss wieder seinen Instinkten vertrauen. Sich an jenen Samstagnachmittag, den 13. Oktober 2002, erinnern. Es war der Tag, an dem er zum Champion wurde.
Der Tag vor seiner ersten Strassen-Weltmeisterschaft in Zolder (Be). Die Schweizer sind auf einer Trainingsfahrt. Markus Zberg prallt bei einem Kreisel in einen Pfosten. Er liegt regungslos auf dem Asphalt. Blutet aus Mund und Nase.
Der Jüngste in der Gruppe behält die Nerven. Fabian Cancellara, 21-jährig, greift hinten in seine Trikottasche und ruft mit dem Handy die Ambulanz. Er schickt die Teamkollegen weg, zieht sein Trikot aus, deckt Zberg zu.
Was der junge Cancellara zu diesem Zeitpunkt nicht weiss: Zberg hat den achten Rückenwirbel gebrochen – einen Riss in der linken Gesichtshälfte, eine Prellung der linken Lunge und mehrere kaputte Zähne.
Rasch handeln. Instinktiv das Richtige machen. Die Übersicht behalten. Das ist Cancellara. Das wollen wir am Sonntag auch im Rennen sehen.
Vier Jahre später, wieder an der WM, diesmal in Salzburg. Die erste Medienkonferenz von Swiss Cycling. Alle reden davon, ihr Bestes geben zu wollen. Fabian Cancellara schweigt für einmal. Obwohl er am liebsten aufgestanden wäre und gesagt hätte: Am besten ist, ihr geht jetzt alle heim. Denn Fabian Cancellara will gewinnen.
Er ist so dünn wie noch nie
Am Donnerstag spürte man dieses innere Feuer. Er will diese Chance in Ponferrada packen. Er ist bereit dazu. Er hat alles gemacht, was er machen musste. Und er ist dünn wie noch nie. Sein Kinn gleicht einem Spitzeisen.
Er weiss, dass die Strassen-WM eine Lotterie ist. Aber er weiss auch, wie er die guten Zahlen ziehen muss. Das hat er in den letzten Jahren beim Frühjahrsrennen Mailand–San Remo beweisen. Kein Klassiker ist schwieriger zu gewinnen als San Remo.
Die letzten vier Jahre stand er immer auf dem Podest: Viermal Zweiter, einmal Dritter. Bei diesen Ehrenplätzen ist auch die eine oder andere Enttäuschung dabei. Die muss er vergessen. Wir wollen nicht sehen, wie Cancellara ein ausgezeichnetes Rennen gefahren ist und im Finale alles richtig gemacht hat. Und dann auf dem letzten Metern die Hände verwirft und den Kopf schüttelt – weil er geschlagen wird.
Es wird Zeit, dass er einige Rechnungen begleicht. Hinterrad-Lecker brauchen am Sonntag einen anderen Chauffeur.
Wir wollen ihn sehen wie in San Remo 2008. Als er den richtigen Moment erwischte und im Stile der ganz Grossen gewann. Er hebelte die Sprinter mit einem trockenen Angriff vor dem Ziel klassisch aus.
Wir wollen sein bestes Rennen sehen!