Wie viele Freiheiten hat ein Radrennfahrer heutzutage noch? Diese Frage treibt die Profis um. Denn: Die immer grösseren technischen Möglichkeiten sorgen nicht immer für Begeisterung.
Sogar jetzt, wenn die Fahrer wegen der Corona-Krise zuhause trainieren (auf der Rolle oder draussen), werden sie von ihren Teams genau überwacht. «Sie können einen Athleten auf Schritt und Tritt kontrollieren – und zwar täglich», weiss Bahnspezialist Claudio Imhof (29).
Auch eine Kaffeepause bleibt nicht unbemerkt
Das Prozedere ist dabei einfach: Bei einem Training werden alle Daten (Kilometer, Trittfrequenz, Höhenmeter, Kalorienverbrauch, Puls, Watt) auf dem Rad-Computer gespeichert und an den Sportlichen Leiter übertragen. «Er sieht alles. Auch, wenn ich kurz halte, um einen Kaffee zu trinken», sagt Fabian Lienhard (26). Für den Neo-Profi vom Team Groupama-FDJ ist das ungewohnt, früher wurde er nicht annähernd so genau überwacht.
Lienhard findet das nicht per se schlecht. Tatsächlich werden beispielsweise Fehlbelastungen beim Treten erkannt – dann, wenn ein Fahrer mit einem Bein deutlich stärker auf die Pedale drückt als mit dem anderen. «Und ich erhalte gute Feedbacks, wie ich mein Training optimieren kann. Derzeit telefoniere ich täglich zweimal pro Woche mit meinem Coach», so Lienhard. Gleichzeitig gibt der Zürcher zu: «Heute bin ich fast schon eine Maschine.»
Küng: «Ich gleiche mein Gefühl mit den Daten ab»
Es liegt auch aber an den Fahrern, wie genau sie kontrolliert werden (wollen). Und wie oft sie selbst nach den Zahlen auf ihrem Velocomputer fahren. Bei Groupama-FDJ ist die Analyse der Zahlen zwar wichtig, aber man berücksichtigt auch den Faktor Mensch. «Ich trainiere auch viel nach Gefühl», sagt Lienhards Teamkollege Stefan Küng (26). Erst nach einer Einheit gleiche er das Gefühl mit den Daten ab. «Das ergibt ein Trainingsprofil. Ich finde es cool, die Zahlen die analysieren, sie zeigen Entwicklungen an.»
Manch ein Teamchef ist jedoch auch besessen von Daten und Statistiken. Lienhard: «Ich weiss von Fahrern, die jeden Morgen in einer Skala angeben müssen, wie gut oder schlecht sie geschlafen haben. Tippen sie eine tiefe Zahl an, klingelt sofort das Telefon und man will wissen, was los ist.»
Vor und nach jedem Training auf die Waage
Ähnliches musste Silvan Dillier (29) bei seinem ehemaligen Team BMC Racing auch tun. Das nervte ihn. «Es steckt nicht immer etwas Schlimmes dahinter, wenn ich mal schlecht schlafe. Und wenn ich tatsächlich ein körperliches Problem habe, kann ich selbst den Teamarzt anrufen.»
Bei seiner aktuellen Mannschaft AG2R funktioniere das gut. «Da muss ich auch nicht wie andere vor und nach jedem Training auf die Waage stehen», sagt Dillier. Sein Coach Daniel Healey schickt ihm einmal pro Woche einen Rapport mit seiner Analyse der Trainingszahlen – das reicht Dillier. «Dann definieren wir alles weitere gemeinsam. So ist es optimal.»
Sport nur noch vor dem Bildschirm?
Welche sind die Folgen der Corona-Krise? Taucht diese Frage auf, werden oft negative wirtschaftliche Entwicklungen in den Vordergrund gestellt. Aktienstürzen, steigende Arbeitslosenzahlen, serbelnden KMUs. Die Pandemie hat jedoch weitreichende Folgen. Eine davon ist die Beschleunigung der digitalen Entwicklung. Ob Video-Konferenzen, Homeshopping oder Homeschooling – viele Menschen, die sich bislang wenig interaktivem Internet befassten, entwickeln neu ein Gespür für Technik. Das gilt auch für die Rad-Profis, die ab Dienstag bei «The Digital Swiss 5» teilnehmen.
«Ich werde heute Abend gleich die App herunterladen und meinen Smart Trainer einstellen, damit dann auch alles funktioniert», sagt Claudio Imhof am Telefon. Der Thurgauer, der 2021 in Tokio mit dem Schweizer Bahnvierer eine Medaille anstrebt, ist eigentlich technikaffin, «aber dieses System kannte ich nicht. Ich freue mich darauf.»
«Eine tolle Ergänzung»
Laut Zukunftsforscherin Karin Frick vom Gottfried Duttweiler Institut ist Imhofs Reaktion exemplarisch. Für sie ist die Corona-Krise – zumindest in Bezug auf die Entwicklung der virtuellen Realität – eine Chance. «Die Digitalisierung bekommt einen grossen Schub. Ein Radrennen wie die Tour de Suisse, welches draussen auf der Strasse stattfindet, wird auch künftig nicht ersetzt. Aber genau solche neuen Technologien können eine tolle Ergänzung dazu sein.»
Frick betont, dass nicht nur Profis, sondern auch Hobby-Sportler profitieren. «Wenn es draussen miserables Wetter ist, kann man in den eigenen vier Wänden dennoch trainieren. Und das völlig gefahrlos.» Doch das ist nicht alles – auch der gesundheitliche Aspekt sei entscheidend. «Wagen wir einen Blick in die Zukunft und nehmen wir einen Anfänger, die den Traum hat, einmal einen Marathon zu laufen. Er kann draussen trainieren, klar. Zuhause aber messen Sensoren auf dem Laufband und im Schuh alles – Laufstil, Frequenz und die Druckverteilung der Füsse. Die Daten wird dabei direkt an einen Profi-Coach übermittelt, der innert Sekunden Feedback gibt. Er kann sofort korrigierend einwirken und individuelle Trainingspläne konzipieren.»
«Ein besonderes, körperliches und auch gemeinschaftliches Erlebnis»
Das Spielerische kommt künftig aber auch nicht zu kurz. Es ist schon heute möglich, sich virtuell für einen Jogging-, eine Golf-Runde oder eine Velo-Ausfahrt zu treffen. Mit dem klassischen Gamer, der wie ein Nerd vor dem Computer oder TV sitzt und nur einen Controller bedient, hat das nicht mehr viel zu tun. «Bildschirme wie heute werden wir 2050 kaum noch benötigen», prognostiziert Frick.
Spezielle Brillen würden die virtuelle und die reale Welt verschmelzen lassen. «Das bietet ein besonderes, körperliches und oft auch gemeinschaftliches Erlebnis. Betrachtet man dies als Ergänzung des normalen Lebens, ist es auf jeden Fall eine Bereicherung.»