Es ist die vorletzte Nacht am Sechstage-Rennen in der Halle «Het Kuipke» in Gent. Mit Tempo weit über 50 jagen die Fahrer über die 160 Meter lange Holzbahn. Die 40-minütige Jagd (Zweier-Mannschaftsfahren) ist in vollem Gang.
Das belgisch/deutsche Duo Keisse/Bartko führt. Die Spanier Galvez/Llanares liegen mit einer Runde Rückstand auf Platz 2. Auch das Schweizer Duo Marvulli/Aeschlimann jagt mit.
Kurz nach 0.30 Uhr startet Marvulli einen Angriff. «Die Chance auf einen Rundengewinn schien mir ideal. Keisse hängte sich an mein Hinterrad. Als wir etwa eine halbe Runde Vorsprung hatten, knallte es.»
Sekunden später fährt Marvulli am auf dem Boden liegenden Spanier vorbei: «Im ersten Moment ist es für mich ein Sturz wie jeder andere. Ich nehme Tempo weg, warte bis er aufsteht, weiterfährt.» Doch Isaac Galvez steht nicht mehr auf. Der Spanier, der zusammen mit seinem Partner Juan Llanares aktueller Américaine-Weltmeister ist und diesen Titel schon 1999 gewonnen hat, ist tot.
Was ist passiert? Dem Belgier Dimitri de Fauw (25) unterläuft ein Anfängerfehler. Er schaut nicht zurück, als er vorn im Feld nach oben fährt, um die Führung abzugeben. Galvez, kommt in diesem Moment von hinten herangebraust – er hat keine Chance.
Erst touchiert er den Belgier, dann wird er über die Balustrade katapultiert und knallt voll in einen Pfosten. Innert Sekunden sind die Ärzte da. Aber alle Wiederbelebungsversuche scheitern. Isaac Galvez hat sich das Genick gebrochen. Zusätzlich hat eine Rippe sein Herz durchbohrt. Er verblutet innerlich.
Der Schock in der Halle ist riesig. Zuschauer brechen zusammen. Einer derOrganisatoren erleidet eine Herzattacke. Das Rennen wird sofort abgebrochen. Auch der für Sonntag vorgesehene Abschluss der «Zesdaagse Vlaanderen» wird abgesagt. «Aus Respekt vor Galvez, seiner Familie und den anderen Fahrern», erklärt der geschockte Veranstalter Rob Discart (B).
Dimitri de Fauw bricht erst in einen Weinkrampf aus. Dann schlägt er alles zusammen, was er in die Hände und vor die Füsse bekommt. Schliesslich bringt man ihn mit einen Nervenzusammenbruch ins Sanitätszimmer.
Franco Marvulli fährt zusammen mit dem Italiener Marco Villa zurück ins Hotel.
Gegen zwei Uhr früh weckt er Bruno Risi (38). Der Urner ist wegen Magen-Darm-Beschwerden im Rennen neutralisiert und liegt im Bett. Risi ist geschockt. Auch er hat Tränen in den Augen.
Dann muss Marvulli Juan Llanares beruhigen. Der Partner und Freund von Galvez ist ein Häufchen Elend. «Ich packte die Sachen von Galvez in den Koffer. Das Buch, das er am Nachmittag noch gelesen hat. Und die zwei Bilder von seiner Frau. Er war erst seit drei Wochen verheiratet. In München hat er mich noch stolz seiner Frau vorgestellt», erzählt Marvulli.
Franco Marvulli handelt wie eine Maschine. Er steht Llanares bei. Dieser muss Galvez’ Frau und Verwandten die Todesnachricht telefonisch mitteilen.
Erst dann geht Franco Marvulli in sein Zimmer – und weint die ganze Nacht. Sucht Trost bei seiner Mutter und bei seiner Freundin.
Gegen Mittag steigen Bruno Risi und Franco Marvulli ins Auto. Fahren gemeinsam von Gent in die Schweiz zurück. Es wird eine lange, elfstündige, traurige Fahrt.
Beide wissen, es hätte auch sie treffen können.
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