Kurz zusammengefasst
- Schnelle Hilfe entscheidend bei Schädel-Hirn-Trauma
- Hypoxie und Blutdruckabfall erfordern sofortige medizinische Massnahmen
- Thorsten Hammer war 12 Jahre Rennarzt bei der Tour de Suisse
Blick: Thorsten Hammer, was ging Ihnen durch den Kopf, als Sie am Donnerstag die Meldung über Muriel Furrers schlimmen Unfall erhalten haben?
Thorsten Hammer: Ich bin in München an einer Konferenz und Freunde aus der Schweiz haben mich per Whatsapp informiert. Natürlich war auch ich geschockt. Als ich gelesen habe, dass sie ein schweres Schädel-Hirn-Trauma erlitt und im Spital notoperiert wurde, befürchtete ich das Schlimmste. Leider ist es dann genau so gekommen.
Sie sind nicht nur Unfallchirurg und Notfallmediziner, sondern waren 12 Jahre lang Rennarzt bei der Tour de Suisse. Was ist bei der Versorgung einer Person mit einem Schädel-Hirn-Trauma entscheidend?
Als Erstes sind da mal die Primärschäden. Hirnzellen sind beschädigt oder kaputt. In der Regel sind aber die Sekundärschäden entscheidender.
Was heisst das?
Durch die enorme Energie, die auf den Körper eines Menschen einwirkt, kommt es oft zu einer Schwellung im Gehirn. Das führt dazu, dass wichtige Teile eingeklemmt werden, weil es im Kopf nicht mehr genügend Platz hat. Oft muss man dann mit einer Operation die Schädeldecke öffnen und Teile davon entfernen.
Privatdozent Dr. med. Thorsten Hammer (51) ist einer der renommiertesten Notfallmediziner bei Sportverletzungen. Von 2006 bis 2018 war der Deutsche Rennarzt der Tour de Suisse – die meisten Jahre in leitender Funktion. Beim Universitätsklinikum Freiburg ist er Leiter der Stabsstelle für Katastrophenschutz, Risiko- und Gefahrenabwehr.
Privatdozent Dr. med. Thorsten Hammer (51) ist einer der renommiertesten Notfallmediziner bei Sportverletzungen. Von 2006 bis 2018 war der Deutsche Rennarzt der Tour de Suisse – die meisten Jahre in leitender Funktion. Beim Universitätsklinikum Freiburg ist er Leiter der Stabsstelle für Katastrophenschutz, Risiko- und Gefahrenabwehr.
Das ist bei der Erstversorgung nicht möglich.
Richtig. Aber es gibt zwei weitere Sekundärschäden, bei denen eine schnelle Hilfe entscheidend ist. Oft kommt es zu einer Hypoxie, also einer Unterversorgung des Körpers mit Sauerstoff – und somit auch des Gehirns. Man muss darum den Patienten möglichst schnell künstlich beatmen. Gleichzeitig fällt der Blutdruck rasch ab – da wirkt man mit Medikamenten, die sofort verabreicht werden, entgegen. Etwas will ich aber betonen …
Bitte.
Ich weiss nicht, wie die Situation bei Muriel war. Alles, was ich hier ausführe, bezieht sich auf meine Erfahrungen.
Der bekannteste Fall eines Schädel-Hirn-Traumas bei der Tour de Suisse ist jener von Gino Mäder im letzten Jahr. Da waren Sie nicht mehr dabei. Welchen Rennfahrer haben Sie betreut?
Zum Glück sind solche Unfälle selten. Aber ich erinnere mich genau an jenen von Juan Mauricio Soler bei der Tour de Suisse 2011. Er wollte auf dem Trottoir nach vorne fahren, touchierte zwei Kinder und fiel kopfvoran in einen Betonpfosten. Sein Helm war gespalten, er verlor viel Blut. Ich hörte «chute!» via Radio-Tour und war in weniger als einer Minute bei ihm. Wir haben ihn sofort künstlich beatmet und Medikamente verabreicht. Danach wurde er mit der Rega ins Spital nach St. Gallen geflogen. Soler fuhr nie mehr Radrennen, wurde aber wieder gesund und konnte seither ein normales Leben führen.
Wäre das auch ohne sofortige Hilfe möglich gewesen?
Nein. Wäre Soler zum Beispiel bei einem Training gestürzt, hätte die Rettung viel länger gedauert und er hätte den Unfall wohl nicht überlebt.
Es wird spekuliert, Furrer habe lange unentdeckt im Wald gelegen. Hätte sie gerettet werden können, wenn man sie schneller entdeckt hätte?
Das kann ich nicht beurteilen. Ein Schädel-Hirn-Trauma ist zwar eine gravierende Verletzung, aber auch da gibt es Abstufungen. Und wir wissen nicht, ob sie noch andere Verletzungen hatte.
Die Vermutung ist, dass Furrer um 11 Uhr gestürzt sein könnte. Später, um 12:45 Uhr, zeigen TV-Bilder beim Paracycling-Rennens der Kategorie C4-C5 mehrere Krankenwagen an der möglichen Unfallstelle Furrers.
Das hat mich auch verwundert.
Wäre es möglich, dass man Furrer schon früher gefunden hat, man mit dem Abtransport aber zuwarten wollte?
Das kann ich mir nicht vorstellen. Sonst hätte man das Para-Rennen nicht gestartet oder es zumindest gestoppt.
Der Gedanke, dass man Furrers Unfall lange nicht bemerkt hat, ist beklemmend.
Das geht mir auch so. Aber wie gesagt, wir haben noch keine weiteren Infos.
Hat man bei einem Schädel-Hirn-Trauma überhaupt eine Überlebenschance, wenn man mehr als eine Stunde lang nicht medizinisch betreut wird?
Die Gefahr, zu sterben, steigt in der Zeitachse exponentiell an. Das zeigen mehrere Studien. Da ist es ähnlich wie bei einem Lawinenunglück. Findet man einen Menschen rasch, ist die Chance gut, dass er überlebt oder zumindest keine schweren Schäden, wie zum Beispiel Lähmungen, erleidet. Einfach gesagt: Es geht bei einer solchen Rettung um jede Sekunde.
Haben Sie es jemals erlebt, dass ein verunfallter Radfahrer in einem Rennen übersehen wird?
Nein. Es gab immer wieder abgelegene Strecken, wo es kaum Menschen am Strassenrand hatte, zum Beispiel im Wallis. Aber wenn jemand stürzte, konnten wir ihn immer relativ rasch lokalisieren.
Bei der WM gibt es keinen Funk. Ein Fehler?
Das ist eine häufig geführte Diskussion. Geht es um den Sport, kann man darüber streiten. In meiner Funktion als Arzt sage ich aber ganz klar: Ja, die Funkverbindung zu den Fahrern kann helfen, schlimme Folgen nach Unfällen zu minimieren. Ein Vergleich: Wenn jemand heute zwischen einem alten Telefon mit einer Wählscheibe und einem Handy wählen kann, nimmt er ziemlich sicher das Handy. Wir sollten uns dem technologischen Fortschritt nicht entgegenstellen – auch nicht im Radsport.
Werden gefährliche Stellen zu wenig gesichert?
Ich finde, da unternimmt man grosse Anstrengungen. Letztlich kann man bei einem Radrennen aber nicht jeden Baum und jeden Pfosten mit Matten versehen.
Die Fahrer und die Velos werden immer schneller.
Das ist Fakt. Aber ich wüsste nicht, wie man das verhindern kann. Beim Schutz vor Verletzungen und bei der Rettung haben wir aber noch viel Potenzial.
Haben Sie konkrete Ideen?
Es gibt schon heute Autos, die mit Crash-Sensoren ausgestattet sind. Wirkt eine starke Energie auf sie ein, wie zum Beispiel bei einem Unfall, wird direkt ein Signal in eine Leitstelle abgegeben. Dadurch erfährt man dort sofort, wie viele Menschen im Auto gesessen haben und wo sich das Fahrzeug genau befindet. Ein solch GPS-gesteuertes Notfallsystem wäre auch im Radsport sehr hilfreich – übrigens nicht nur für Profis.
Was halten Sie von Airbags, Rückenprotektoren und schnittfesten Kleidern?
Schwierig. Es ist nicht wie beim Lauberhornrennen, wo Skifahrer zweieinhalb Minuten unterwegs sind. Die Rad-Profis sind manchmal sechs Stunden bei 35 Grad unterwegs. Aber klar, wenn etwas möglich ist, sollte man auch in diese Richtung forschen.
Beim Rennen von Furrer war es sehr dunkel und es regnete stark.
Mir ist das auch aufgefallen.
Hätte man den Wettkampf stoppen oder neutralisieren sollen?
Vielleicht, ja. Aber Regen alleine gilt bei Radrennen nicht als extremes Wetter und darum wird auch kaum einmal etwas unternommen. Wenn, dann geht es meist um Schnee, Kälte oder Sturmwetter.
Es gibt bereits Kopf-Airbags, die sich nach einem Aufprall sofort um den Kopf stülpen und ihn schützen. Eine gute Idee?
Das ist ein Ansatz, den ich genau anschauen würde. Dabei trägt man aber keinen Helm, was ich nicht gut finde. Vielleicht kann man ein System erfinden, bei dem dieser Airbag im Helm integriert ist und sich dann aufbläst.
Was wäre ihr Wunsch?
Für mich ist jedenfalls klar, dass man etwas für die Sicherheit tun muss – nicht nur im Profi-Sport. Denn: Auch bei Hobbyfahrern und Hobbyfahrerinnen ist die Anzahl schwerer Verletzungen gestiegen, vor allem wegen der hohen Tempi der Elektrovelos.