Töff-Legende Tom Lüthi über ihr bewegtes Leben
«Ich nahm am Bett Abschied von ihm»

Vor 20 Jahren wurde Tom Lüthi Töff-Weltmeister. Warum der Titel rückblickend zu früh kam. Weshalb ihn einst der Dorfpfarrer nicht konfirmierte. Und wieso ihn die Ärzte schon abgeschrieben hatten.
Publiziert: 09:05 Uhr
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Tom Lüthi unterwegs im Emmental. Im grossen Interview blickt er auf sein bewegtes Leben zurück.
Foto: Thomas Meier
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Daniel LeuStv. Sportchef

Herr Lüthi, ich muss mich zuerst einmal bei Ihnen entschuldigen?
Tom Lüthi: Warum?

Im Jahr 2000 schrieb ich in einem Magazin über den damals 13-jährigen Pocketbike-Fahrer Tom Lüthi: «Die Gefahr ist gross, dass Thomas in einigen Jahren nicht bei den Grossen, sondern immer noch bei den Kleinen rumdriften wird.»
(Lacht.) Da sind Sie wohl gründlich danebengelegen … Doch damals dachten nicht nur Sie so. Ein Schweizer, der in der Töff-WM an der Weltspitze mitfährt, war in jener Zeit undenkbar. Selbst mein Vater Hansueli sagte mir früher: «Als Schweizer schafft man das nicht.»

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Im Gespräch mit Blick schaut Tom Lüthi auf sein bisheriges Leben zurück.
Foto: Thomas Meier

Können Sie sich noch an die ersten Runden erinnern, die Sie auf einem Bike gedreht haben?
Da war ich etwa siebenjährig. Damals bekamen wir einen neuen Nachbarn, der Pocketbike fuhr. Als unsere Familie ihn mal an einem Rennen besuchte, gingen meine Eltern über Mittag eine Bratwurst essen. Da sagte mir mein Nachbar: «Komm, fahr doch mal eine Runde.» Und schon war ich am Fahren. Ich spürte gleich: Das ist es. Danach brachte man mich kaum mehr vom Pocketbike runter.

Ihre Eltern besassen einen kleinen Bauernhof mit Milchkühen. Hat Sie das nie interessiert?
Nein. Natürlich musste ich zu Hause oft mithelfen. Das Einzige, was ich aber spannend fand, waren die Maschinen. Traktor fahren mochte ich zum Beispiel sehr. Doch ich hatte schon damals nur den Motorsport im Kopf. Wenn wir laufen gingen, suchte ich mir immer einen Ast, den ich als Töfflenker benutzte, und dann imitierte ich beim Spazieren Motorengeräusche.

Tom Lüthi

Der Emmentaler bestritt in der Töff-WM über 300 Rennen, 17 davon gewann er, 65-mal fuhr er aufs Podest. 2005 wurde er in der 125er-Klasse Weltmeister und Schweizer Sportler des Jahres. 2021 beendete er seine Karriere. Heute ist er unter anderem als Riding Coach und SRF-Experte tätig. Er lebt noch immer in Linden BE.

Der Emmentaler bestritt in der Töff-WM über 300 Rennen, 17 davon gewann er, 65-mal fuhr er aufs Podest. 2005 wurde er in der 125er-Klasse Weltmeister und Schweizer Sportler des Jahres. 2021 beendete er seine Karriere. Heute ist er unter anderem als Riding Coach und SRF-Experte tätig. Er lebt noch immer in Linden BE.

Motorsport ist teuer. Hatten Ihre Eltern das Geld dazu?
Nein, Pocketbike lag gerade noch finanziell drin. Als es später darum ging, mit richtigen Motorrädern in einem Juniorenteam in Deutschland zu fahren, kostete ein Platz im Team 30’000 Franken. Geld, das wir nicht hatten.

Wie organisiert man auf die Schnelle 30’000 Franken?
Was meine Eltern damals geleistet haben, ist unglaublich. Um die 30’000 Franken zusammenzubringen, zogen wir damals in der Region von Ausstellung zu Ausstellung, bauten dort unseren Stand auf und sammelten Geld. Und auch das halbe Dorf Linden wurde Gönner von mir.

Ihr Pfarrer aber nicht, oder?
(Lacht.) Der nicht, nein. Weil ich zu oft im Religionsunterricht gefehlt hatte, weigerte er sich, mich zu konfirmieren. Wir machten dann einfach trotzdem ein Fest mit Gotte und Götti. Wissen Sie, was das Beste an der Geschichte ist?

Nein.
Als ich später mein erstes Rennen gewann, kam der Pfarrer auf mich zu und meinte, ich könne doch noch nachträglich konfirmiert werden. Doch da erklärte ich ihm, jetzt wolle ich auch nicht mehr.

«Hätte nicht mich, sondern Federer gewählt»
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Lüthi Sportler des Jahres 2005:«Hätte nicht mich, sondern Federer gewählt»

Einer breiteren Öffentlichkeit wurden Sie im Juli 2002 bekannt. Damals gaben Sie auf dem Sachsenring Ihr WM-Debüt in der 125er-Klasse.
Da muss ich kurz etwas ausholen. In der deutschen Meisterschaft fuhr ich mit einem Standard-Töff und war meist chancenlos. Als klar war, dass ich am Sachsenring mit einer Wildcard starten darf, durfte ich schon zuvor einen DM-Lauf mit dem WM-Töff bestreiten. Ich siegte und dachte: Ich bin «en Siech». Doch dann kam auf dem Sachsenring das erste freie Training.

Was war da los?
Ich kann mich noch daran erinnern, als ob es gestern gewesen wäre. Mir fuhren alle um die Ohren. In einer lang gezogenen Kurve überholte mich Manuel Poggiali aussen, und eine Kurve später hatte ich ihn schon nicht mehr gesehen. Da realisierte ich erst, wie schnell man mit diesen Töffs überhaupt fahren konnte.

Doch 2004 hätte Ihre Karriere schon wieder vorbei sein können.
Nachdem 2003 super gelaufen und ich bereits einmal aufs Podest gefahren war, kam 2004 der Dämpfer. Ich hatte Stürze und Verletzungen, aber keine guten Resultate. Rückblickend betrachtet hat mir das gutgetan. Ich verstand, dass es mehr braucht, vor allem im mentalen Bereich.

2005 wurden Sie dann gefühlt aus dem Nichts Weltmeister.
Eine lustige Episode waren die Testfahrten vor der Saison in Jerez. Während wir dort mit einem Büsli und zu viert waren, reiste unser Hauptkonkurrent KTM mit zwei Riesen-Sattelschleppern und unzähligen Mitarbeitern an.

Trotzdem waren Sie auf Anhieb konkurrenzfähig und gewannen in Frankreich Ihren ersten GP.
Das war aber wirklich knapp, denn während der Auslaufrunde ging mir das Benzin aus.

Glück hatten Sie ein paar Monate später auch in Motegi.
Ich stürzte damals heftig. Als ich von der Strecke kriechen wollte, fuhr mir einer voll über die Füsse. Das war ein richtig heftiger Unfall. Da das Rennen danach abgebrochen wurde, wurde ich trotzdem noch als Zweiter gewertet. Aber ohne mich auf dem Podest, da ich ja im Strecken-Krankenhaus lag. Schräg war dort auch noch etwas anderes.

Was?
Nach den Rennen muss der Töff jeweils im Parc fermé abgestellt werden. Doch meiner bestand ja nur noch aus Einzelteilen. Deshalb brachte meine Crew einfach all die Einzelteile in den Parc fermé.

Eine Woche später siegten Sie in Malaysia. Wie war das möglich?
Das habe ich mich manchmal auch gefragt … Als ich in Malaysia am Flughafen ankam, wurde ich im Rollstuhl rausgeschoben, und danach lief ich mit Krücken rum. Doch irgendwie kriegte ich das am Rennwochenende doch hin, schnell zu sein.

Die 2005er-Saison war ein ständiges Auf und Ab. Stichwort Australien.
Danke, dass Sie mich daran erinnern … Nach dem Rennen, das ich gewonnen hatte, wollten wir möglichst schnell zum Flughafen, bevor das grosse Verkehrschaos ausbrach. Mein Mechaniker, der am Steuer sass, schaute bei der Kreuzung wegen des Linksverkehrs auf die falsche Spur, fuhr los und schon knallte es so richtig heftig. Dass uns dort nichts passiert ist, war einfach nur Glück.

Am 6. November 2005 war es schliesslich so weit: Sie wurden 125er-Weltmeister. Trotzdem sagten Sie später mal: «Der Titel kam zu früh.» Warum?
Natürlich war es wunderschön, doch der Titel kam tatsächlich ein paar Jahre zu früh, ich war da ja auch erst 19. Ich rannte danach nur noch von Termin zu Termin und stand überall im Mittelpunkt, obwohl ich einfach nur meine Ruhe haben wollte. Und wenig später wurde ich dann auch noch zum Schweizer Sportler des Jahres gewählt. Vor Roger Federer, was mir eigentlich bis heute nicht recht ist.

Ihre Geschichte war ja auch ein Märchen: vom Bauernbub zum Weltmeister.
Auch das hat mich damals gestört. Als Teenager hat mich das immer genervt, weil es nicht so cool klang. Doch heute denke ich völlig anders darüber. Ich hätte nicht anders aufwachsen wollen.

Nach Ihrem WM-Titel fuhren Sie noch über 15 Jahre weiter. Wie würden Sie diese Zeit bilanzieren, eher positiv oder negativ?
Man muss mit dem zufrieden sein, was man erreicht hat. Mein Traum war es immer, Rennfahrer zu werden. Das habe ich geschafft.

Die Aussenwahrnehmung war manchmal eine andere. Viele fragten sich: Warum kann der einstige Töff-Weltmeister nicht mehr ganz vorne mitfahren?
Einspruch! Ich war zum Beispiel in der Moto2 noch zwei Mal Vize-Weltmeister und gewann während meiner Karriere insgesamt 17 GP-Rennen.

In der MotoGP hat es aber nicht geklappt.
Ich war 2018 einfach zur falschen Zeit am falschen Ort. Trotzdem bin ich froh, dass ich diesen Schritt gewagt habe und mir so einen weiteren Traum erfüllen konnte. Ich merkte damals aber schnell, dass das Team am Zerfallen war. Irgendwann lief die Kommunikation intern nur noch über die Anwälte, und die Mechaniker hatten Existenzängste. So sportliche Leistung zu bringen, war unmöglich.

Arbeiteten Sie jeweils mit einem Mentaltrainer zusammen?
Zu Beginn meiner Karriere noch nicht. Ich war damals noch kein Egoist, deshalb war ich oft viel zu nett. Wenn aber 20 wilde junge Männer auf die erste Kurve zurasen und du nur an die anderen denkst, kommt das nicht gut. Deshalb machte ich danach auch Kickbox- und mentales Training, um mehr – pardon die Wortwahl – Sauhund zu sein und mehr Selbstvertrauen zu bekommen. Das war wichtig. Ich musste lernen, die Zügel selbst in die Hand zu nehmen. Das war eine super Lebensschule, von der ich noch heute profitieren kann.

Sie hatten immer mal wieder auch schwere Unfälle. Welches war Ihr schlimmster?
Das war ganz klar der bei den Testfahrten 2013 in Valencia. Ich zog mir damals im rechten Ellbogen 25 Trümmerbrüche zu. Als ich ins Strecken-Krankenhaus kam, hatten mich die Rennärzte dort bereits abgeschrieben. Sie waren davon überzeugt, dass ich nie mehr Töff fahren werde. Ich wollte dann möglichst schnell zu meinem Chirurgen nach Münsingen, obwohl mich die Ärzte nicht gehen lassen wollten, doch die Heimreise war dann sehr kompliziert.

Warum?
Ursprünglich sollte mich die Rega nach Belp fliegen, doch weil es so heftig schneite, war der Flughafen zu, und wir mussten in Zürich landen. Zehn Minuten nach unserer Ankunft war dann auch Zürich zu. Danach ging es im dichten Schneetreiben mit dem Rettungsauto nach Münsingen. Als ich dort um 3 Uhr ankam, war klar: Ich musste sofort operiert werden, denn mein Ellbogen war wegen den inneren Blutungen mittlerweile dicker als mein Oberschenkel. Da hatte ich wirklich viel Glück gehabt. Wenige Wochen später gab ich dann in Austin mein Comeback. Als mich dort die Ärzte, die mich in Valencia betreut hatten, sahen, fielen die beinahe vom Stuhl. Die hätten nie für möglich gehalten, dass ich jemals wieder auf einem Töff sitzen würde.

Beim Blick auf Ihre Karriere fällt auf: Sie waren oft nach Unfällen gleich wieder erfolgreich. War das ein Zufall?
Nein, es ging immer um die eigene Erwartungshaltung und nie um den Druck von aussen. Nach einer Verletzung war ich oft locker drauf und machte mir kaum Druck. Doch rückblickend frage ich mich manchmal auch, wie ich das geschafft habe. So zum Beispiel in Assen 2011.

Was war da?
Ich fuhr damals mit einem gebrochenen Schlüsselbein auf Rang 3. Das war alles Kopfsache. Auf dem Podest bin ich danach beinahe umgekippt, und später fiel mir sogar noch der Pokal runter und ging kaputt, weil ich nicht mehr die Kraft dazu hatte, ihn zu tragen.

Manch einer Ihrer Rennfahrerkollegen hatte leider weniger Glück als Sie. Wie gingen Sie zum Beispiel mit dem tödlichen Unfall von Shoya Tomizawa 2010 in Misano um?
Ich kannte ihn sehr gut, da wir den gleichen Helmhersteller hatten. Natürlich fragte ich mich danach: Was mache ich eigentlich hier?

Haben Sie sich seinen Sturz jemals angeschaut?
Nein, bis heute nicht.

Noch extremer war es 2021, als in Mugello der Schweizer Jason Dupasquier tödlich verunglückt war. Sie waren sein Mentor.
Ich sass damals in meiner Box und schaute mir sein Training und dadurch auch seinen Unfall an. Als dann ein Helikopter auf der Strecke gelandet war, wusste ich, das muss sehr schlimm sein. Doch wenig später stand mein Training an, an dem ich teilnahm. Als Profisportler schafft man das. Man schiebt die negativen Gedanken zur Seite und konzentriert sich.

Konnten Sie sich von Dupasquier verabschieden?
Am Sonntagmorgen besuchte ich ihn im Spital. Er hing an der Maschine, und es war klar, dass die Überlebenschance gegen null tendierte. Ich nahm dann am Bett Abschied von ihm und sagte mein Rennen ab. In jenem Moment war schon eine riesengrosse Leere in mir. Trotzdem nahm ich am nächsten Rennen wieder teil, weil ich entschieden hatte, dass es weitergehen muss und dass das Leben – so hart das klingen mag – auch weitergeht.

Ende 2021 beendeten Sie Ihre Karriere. Wie sieht Ihr Leben heute aus?
Wieder ähnlich wie früher. Ich bin beim deutschen Intact-Team Rider’s Coach und arbeite für SRF an zehn Rennwochenenden im Jahr als Experte. Beides mache ich sehr gerne, wenn nur die Reiserei nicht wäre. Die 22 Rennen sind über die ganze Welt verteilt, und dadurch bin ich auch heute noch fast nie zu Hause.

Sie werden im nächsten Jahr 40. Kann es sein, dass Sie irgendwann noch etwas komplett anderes machen werden?
Das habe ich mir schon ein paarmal überlegt. Doch momentan ist meine Leidenschaft für den Töff-Sport noch immer gleich gross wie während meiner Zeit als Rennfahrer.

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