Jeden Morgen dasselbe Ritual. Stefanie Siegenthaler (27) steht auf, geht ins Bad und schaut in den Spiegel. Ihr Blick sucht zuerst die Wimpern. Sind sie noch da? Wenn ja, atmet sie durch. Ein kurzer Moment der Erleichterung in einer Zeit, in der nichts mehr selbstverständlich ist.
Während die Wimpern bleiben, werden die Haare auf ihrem Kopf immer weniger. «Nach dem Duschen hatte ich teilweise ganze Büschel in den Fingern. Da dachte ich: Scheisse, jetzt geht das los», erzählt die ehemalige Spitzenkunstturnerin. Blick trifft Siegenthaler Ende November am Bielersee.
Die Zürcherin trägt eine weisse Kappe. Für die Fotos zieht sie sie ohne Zögern ab – ein Zeichen dafür, wie weit sie gekommen ist. Darunter kommt eine kurze, gleichmässige Frisur zum Vorschein. Von aussen wirkt alles normal.
Doch das, was in der letzten Zeit passiert ist, hat sie innerlich noch lange nicht verarbeitet. Sie blickt auf Monate zurück, die sie physisch und psychisch an die Grenze brachten. Nun spricht Siegenthaler erstmals ausführlich darüber.
Zuerst sah alles nicht so schlimm aus
Nach ihrem Rücktritt Ende 2024 freute sie sich auf ein geregeltes Leben und mehr Freiheiten. Siegenthaler konzentrierte sich auf ihre Ausbildung zur medizinischen Masseurin. An einem Freitag Ende Juni rückte die Schule aber schlagartig in den Hintergrund. Der Hals von Siegenthaler war stark geschwollen. «Ich fühlte mich durchgehend wie im Handstand.» Das Blut staute sich in ihrem Kopf.
Siegenthaler suchte einen Arzt auf, der sie direkt in den Notfall schickte. Dort stellten Spezialisten fest, dass sich Wasser im Herzbeutel angesammelt hatte. Eigentlich nichts Dramatisches. Deshalb sollte der nächste Arzttermin erst einen Monat später stattfinden. Da es Siegenthaler in den nächsten Tagen aber weiterhin «miserabel» ging, brachte sie ihr Freund, der Spitzenkunstturner Tim Randegger, erneut ins Spital.
Ein CT zeigte schliesslich den Grund für ihr Unwohlsein: Ein grosses Geschwür drückte Gefässe ab, was ihre Herzbeutelentzündung auslöste. Nach weiteren Untersuchungen erhielt Siegenthaler die Schockdiagnose Lymphdrüsenkrebs. «Ich dachte, ich muss sterben. Für mich war das ein Todesurteil.» Weil die Ärzte nicht wussten, wie schnell der Tumor wächst, wurde sie tagelang überwacht. «Es fühlte sich an, als hätte ich eine tickende Zeitbombe in mir.»
Nach fünf Stunden setzten die Symptome ein
Siegenthaler beruhigte sich doch bald einmal. Ihr wurde erklärt, dass sie Glück im Unglück hatte. Bei der Krebsart von Siegenthaler handelte es sich um eine gut erforschte Variante, die sich im Körper nicht vermehrt. Eine Kollegin von ihr erkrankte vor einem Jahr an der gleichen Krebsart. «Sie konnte mir sehr viel darüber erzählen. Das gab mir Ruhe.»
Trotzdem hatte sie grossen Respekt vor der ersten Chemotherapie. Sie rechnete mit Übelkeit, Erbrechen und Haarausfall. «Für mich war Chemo immer genau das. Und es kam auch genau so.» Als die Medikamente in ihren Körper liefen, wartete sie fast gespannt auf die Reaktion. Zuerst passierte nichts. «Ich dachte kurz, es sei total easy.» Fünf Stunden später setzten die Symptome ein. Ihr wurde schlagartig schlecht. «Ich fühlte die Chemie in mir. Das war sehr hässlich.»
Doch Siegenthaler funktionierte weiter. So gut es ging. Sie erledigte den Haushalt oder telefonierte stundenweise mit Freundinnen. «Es ging mir nie richtig schlecht. Es war einfach ständig ein permanenter Pegel von Übelkeit da.» Jeweils im Zweiwochenrhythmus hatte sie Chemotherapie. Nach dem zweiten Zyklus begann der Haarausfall.
Zwei Worte gaben ihr Halt
Siegenthaler fürchtete sich vor der Kurzhaarfrisur. «Ich fragte meinen Freund, ob er mich dann noch hübsch findet.» Dieser nahm ihr jede Unsicherheit. «Er meinte: Ich würde dich genauso lieben.» Später rasierten sie sich sogar gemeinsam die Haare. «Es war eine lustige Aktion. Und mir wurde klar: Es ist scheissegal, wie man aussieht. Andere Dinge sind viel wichtiger.»
Als schwierigsten Moment während ihrer Chemo beschreibt Siegenthaler einen Tag nach dem vierten Zyklus. «Ich hatte keine Energie, keine Lust mehr weiterzukämpfen. Ich sass nur auf meiner Terrasse und habe geweint.» Draussen herrschte Sommer, während sich Siegenthaler drinnen eingesperrt fühlte. Sie wollte sich auf keinen Fall eine Grippe einfangen.
Zwei Worte trugen Siegenthaler durch diese schwierige Zeit: «positiv und heilbar.» Wieder neue Kraft schenkte ihr auch der Blick auf einen speziellen «Adventskalender». Ihre Familie hatte ihr sechs kleine Geschenke vorbereitet. Nach jeder erfolgreichen Chemo durfte Siegenthaler eines öffnen. «Als die Geschenke weniger wurden, wusste ich, dass ich es fast geschafft hatte.»
Kolleginnen mit spezieller Überraschung
Nach der finalen Chemotherapie folgte ein letzter Test. Zwei Tage nach dem vermeintlichen Ende entdeckten die Ärzte auf einem Scan einen Restbestand des Krebses. Siegenthaler musste sich entscheiden: sofort behandeln oder abwarten. «Ich war komplett überfordert. Ich wollte eigentlich nichts mehr. Keine Tablette, keinen weiteren Stich für eine Infusion, gar nichts.»
Ein Arzt aus der Familie empfahl ihr, ruhig zu bleiben – der Zeitpunkt des Scans sei schlicht zu früh gewesen. Mehrere Wochen vergingen, bis sich Siegenthaler einer weiteren Untersuchung unterzog. «Ich hatte Angst und war brutal nervös.»
Die erlösende Nachricht erhielt Siegenthaler Mitte November. Sie sass gemeinsam mit ihrem Freund in einem Besprechungszimmer, als der Arzt verkündete, dass sie den Krebs besiegt hatte. «Der 19. November ist seither mein zweiter Geburtstag.» Draussen warteten Freundinnen mit einer Konfettikanone. «Diese Momente werde ich nie mehr vergessen.»
Der Kampf geht weiter
Nach der riesigen Erleichterung realisierte Siegenthaler schnell, dass jetzt neue Herausforderungen auf sie warten würden. «Während der ganzen Therapie war ich im Überlebensmodus. Alle kümmerten sich um mich. Als ich plötzlich gesund war, meldeten sich deutlich weniger. Und ich musste wieder funktionieren.» Der Weg zurück sei nicht abgeschlossen.
Dank ihren Erfahrungen im Kampf gegen den Krebs geht sie heute deutlich entspannter durchs Leben. «Alltägliche Probleme wirken kleiner, und vieles, was mich früher gestresst hat, nehme ich gelassener.» Und jeden Morgen, wenn sie in den Spiegel schaut, sieht sie nicht nur Wimpern, die geblieben sind – sondern eine Frau, die grosse Stärke bewiesen hat.