Am Anfang eines Unglücks steht manchmal der Beginn eines neuen Glücks. Bei Michelle Heimberg ist dies definitiv der Fall. Mit nur 12 Jahren musste sie ihren Traum vom Kunstturnen begraben, nachdem beide Kniescheiben gebrochen waren. «Als der Arzt sagte, dass es fertig ist, war dies ein Schock. Ich hatte Mühe, es zu akzeptieren», erinnert sich Heimberg. Kein Wunder, hatte doch das Bewegungstalent aus dem Aargau seit ihrem vierten Lebensjahr weder Mühe noch Schweiss gescheut, um als Kunstturnerin gross herauszukommen.
Und heute? Genau: Heimberg hat den Weg in Richtung Weltspitze trotzdem eingeschlagen. Wenn auch nicht im Turnen, sondern im Wasserspringen. Da gewann Michelle vor knapp einem Monat als erste Schweizerin überhaupt – notabene noch als Juniorin – eine EM-Medaille bei der Elite. Noch heute kann sie kaum glauben, was damals in Kiew (Ukr) geschah: «Ich habe mich mit der Silbermedaille selbst überrascht. Nie hätte ich gedacht, dass es sich so schnell auszahlen würde, dass ich alles für den Sport aufgegeben habe.»
Für ihren Vater Daniel kommt der Exploit allerdings nicht von ungefähr. «Bei Michelle erstaunt mich schon länger nichts mehr. Wenn man meint, dass sie ihr Limit erreicht hätte, setzt sie noch einen drauf.» Während er dies erzählt, blickt er zu seiner Tochter, die einige Meter entfernt gerade von ihrer Ballett-Trainerin instruiert wird. «Moment mal», werden Sie sagen, «wieso Ballett?» Genau so ist es aber! Heimberg nimmt seit einem Jahr Ballettunterricht, um Haltung und Spannung zu schulen. Sie erklärt: «Sobald ich beim Wasserspringen das Brett betrete, zählt es. Die Juroren schauen nämlich schon vor dem Sprung, wie der Ausdruck ist. Diesen kann ich mittels Ballett-Stunden verbessern.»
Man merkt rasch: Heimberg überlässt nichts dem Zufall. «Ich bin sehr ehrgeizig», gibt sie zu. Dabei weiss sie, dass beim Wasserspringen – egal wie viel Erfolge sie noch feiern wird – weder Ruhm noch Reichtum warten. «Die Popularität einer Sportart und die damit verbundenen Verdienstmöglichkeiten waren für mich bei der Wahl nicht entscheidend. Mich motivieren die Freude und Leidenschaft am Sport, fünf Stunden am Tag zu trainieren.»
Aber wie kam Michelle eigentlich dazu, vom Kunstturnen ausgerechnet aufs Wasserspringen umzusatteln? Ganz einfach: Anstatt mit dem Verletzungs-Schicksal zu hadern, begann die damals 12-Jährige damit, sich eine neue Sportart zu suchen – unter anderem mittels Videoclips auf Youtube. Die Kriterien, welche sie stellte: Die Sportart musste olympisch und knieschonend sein. Und natürlich spannend! «Ich habe es mit Schwimmen und Rudern versucht, aber beides war mir zu langweilig. Eines Tages fragte mich meine Mutter: ‹Wie wäre es mit Wasserspringen?› Ich ging ins Training, um es mir anzuschauen – und es war Liebe auf den ersten Blick!»
Schon bald wurde allerdings klar, dass Michelles Entscheid auch Entbehrungen mit sich bringen würde. Konkret: Wegen den besseren Trainingsbedingungen zog sie von Fislisbach nach Genf – da wohnt sie bei einer Gastfamilie. Und: Michelle macht neu ein Fernstudium, statt die Kantonsschule zu besuchen. Vater Daniel: «So ein Wechsel im Alter von 16 Jahren ist nicht ohne. Aber Michelle war von Anfang davon überzeugt, sie sah immer alles als Chance, nicht als Problem. Wir haben sie unterstützt und es klappte ganz gut.»
Ganz gut ist in diesem Fall eine riesige Untertreibung. Nicht nur, weil Michelle mit ihrer EM-Medaille bereits Schweizer Sportgeschichte schrieb. Nein, kürzlich holte sie bei der Junioren-EM vom Ein- und Dreimeter-Brett insgesamt vier weitere Silbermedaillen. Wichtiger für ihren Vater ist allerdings sowieso anderes: «Michelle fühlt sich wohl, hat Freude. Das ist für uns Eltern entscheidend.»
Egal, was seine Tochter schon erreichte: Ihr Ziel ist und bleibt Olympia. 2020 in Tokio will sie erste Erfahrungen sammeln, 2024 in der Weltspitze mittun und 2028 ihren grossen Traum von einer Medaille erfüllen. Das ist der Plan. Graue Theorie, mehr nicht. Michelle hebt nicht ab: «Die EM-Medaillen sind schön, aber ich bleibe realistisch. Bei Olympischen Spielen ist die Leistungsdichte viel grösser.»
Vorerst aber gilt Michelles Fokus der am 14. Juli beginnenden Schwimm-WM in Budapest (Un). Und danach? Genau, dann stehen Ferien an. Endlich! «Ich freue mich riesig, wir fliegen ans Meer. Da will ich dann auch mal nichts tun.» Ihr Vater wendet lachend ein: «Michelle, das kannst du doch gar nicht. Nach zwei Tagen wird dir langweilig!» Seine Tochter gibt schmunzelnd zu: «Er hat recht.»
Genau diese Bewegungs– und Lebensfreude ist es, welche Michelle Heimberg auszeichnet. Frei nach dem Motto: «Wenn etwas nicht klappt, mach etwas anderes – aber mach etwas!» Sie weiss, wovon sie spricht – und ist trotz Umweg bereits auf der grossen Sport-Bühne angelangt.