Boston-Marathon-Opfer DiMartino
«Auf dem Trottoir lagen quasi meine Knochen verteilt»

Vor zwei Jahren wurde Rebekah Gregory DiMartino beim Attentat auf den Boston-Marathon schwer verletzt. «Es war wie ein Horrorfilm – mit mir in der Hauptrolle.» Jetzt kehrt die Amerikanerin nach Boston zurück.
Publiziert: 20.04.2015 um 21:09 Uhr
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Aktualisiert: 28.09.2018 um 21:17 Uhr
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Beim Boston-Marathon 2013 verlor Rebekah Gregory DiMartino ihr linkes Bein.
Foto: Instagram
Von Daniel Leu

Frau Gregory DiMartino, weshalb besuchten Sie 2013 den Boston-Marathon?
Rebekah Gregory DiMartino: Ich war damals mit meinem Freund und seiner Familie als Zuschauerin dabei. Wir wollten seine Mutter unterstützen, die mitrannte. Zudem war es mein Geburtstags-Wochenende.

Was passierte an jenem 15. April 2013 genau?
Ich war nur etwa einen Meter entfernt von der ersten Bombe. Mein Sohn sass auf meinen Füssen. Ich erinnere mich, dass ich durch die Luft gewirbelt wurde. Als ich wieder auf dem Boden lag, versuchte ich mich zu bewegen. Doch ausser meinem Kopf rührte sich nichts mehr.

Was sahen Sie?
Ich sah eine Blutlache voll mit Nägeln. Und auf dem Trottoir lagen quasi meine Knochen verteilt. Es war wie der grausamste Horrorfilm – mit mir in der Hauptrolle.

Wie schwer waren Sie verletzt?
Sehr schwer. Wäre ich länger ohne Hilfe dort gelegen, wäre ich gestorben. Ich hatte viel Blut verloren und schwere Verletzungen am ganzen Körper.

Ihr Sohn hatte den Umständen entsprechend mehr Glück.
Mein Körper war zum Glück ein Schutzschild für ihn. Deshalb hatte Noah bloss Schnittwunden am rechten Bein, eine Splitterwunde am Kopf und leichte Blutungen im Darm. Nach fünf Tagen durfte er das Spital verlassen.

Bei Ihnen dauerte es länger.
Ich musste 55 Tage bleiben und wurde dabei über 40-mal operiert.

Ihr linkes Bein konnte man trotzdem nicht retten. Im November 2014 musste es amputiert werden. Zuvor nahmen Sie Abschied von ihm.
Ich organisierte eine Party, ging ein letztes Mal zur Pediküre und malte die Fussnägel an. Ich wollte damit nicht bloss bewusst Abschied nehmen, sondern auch einen Neuanfang einläuten. Mein linkes Bein war wie ein schlechter Freund, den ich leider loswerden musste.

Körperliche Schäden sind das eine, psychische das andere. Nahmen Sie Hilfe in Anspruch?
Mein Leben ist seit dem Attentat so hektisch, dass ich bislang nicht den Kopf dafür hatte. Wenn es wieder ein bisschen ruhiger wird, möchte ich einen Psychologen aufsuchen.

Haben Sie Albträume?
Drei- bis viermal die Woche. Besonders oft hatte ich sie während des Prozesses.

Sie sagten dort als Zeugin aus. Fiel Ihnen das leicht?
Vor allem zu Beginn musste ich mich überwinden. Ich hatte noch immer Probleme, meine Gefühle zu verarbeiten. Aber ich bin rückblickend froh, dass ich aussagte. Es half mir, in das Gesicht des Attentäters zu schauen und ihm zu zeigen, dass ich keine Angst hatte.

Schaute er auch Sie an?
Nein!

Und was dachten Sie, als Sie ihn anschauten?
Ich dachte: Was für ein armes Kind! Er hätte ein schönes Leben haben können, hat das aber selbst zerstört. Traurig!

Hassen Sie die Attentäter?
Ich bin einfach nur traurig, dass es Menschen mit so viel Hass in ihrem Herzen gibt. Hass und Groll auf die Attentäter würden mir nicht helfen, ins Leben zurückzukehren.

Ist Rebekah 2013 und Rebekah 2015 noch die gleiche Person?
Ich glaube ja. Was ich gelernt habe: Wir wissen oft unser Leben und den Alltag zu wenig zu schätzen. Wenn ich auf meine Prothese schaue, erinnert es mich daran, wie kurz doch unser Leben ist und wie viel Glück ich hatte.

Sind Sie immer so stark und so positiv denkend?
Es gibt Tage, da fühle ich mich richtig stark. Und dann gibts wieder Tage, da fühle ich mich überhaupt nicht stark. Doch es liegt an mir. Jeden Tag, an dem ich aufwache, habe ich zwei Möglichkeiten: Ich kann über meine Probleme nachdenken oder mich an meinem Leben erfreuen.

Sind Sie heute ein glücklicher Mensch?
Ja, ich habe einen tollen Sohn, eine unglaubliche Familie und viele Freunde. Dazu kann ich mit meiner Lebensgeschichte anderen Leuten helfen. Was will man mehr?

Welche Träume haben Sie denn noch?
Viele. Mein grösster: Ich möchte die Welt ein bisschen besser machen.

Einen Ihrer Träume haben Sie sich Ende März erfüllt. Da nahmen Sie am Unesco Cities Marathon in Triest teil.
Das war sehr wichtig für mich, denn ich startete in Triest das erste Mal mit meiner Prothese an einem Lauf.

Folgen weitere Teilnahmen?
Ich hoffe es, denn das Laufen macht mir sehr viel Spass, und ich geniesse es.

Am 20. April findet der nächste Boston-Marathon statt. Mit Ihnen?
Ja, ich werde nicht den ganzen Marathon laufen, aber ich werde die Ziellinie überqueren.

Reisen Sie mit schlechten Gefühlen nach Boston?
Nein, denn ich liebe Boston. Ich habe keine Angst, an den Ort des Attentats zurückzukehren. Im Gegenteil: Ich freue mich auf all die Leute, die in den letzten beiden Jahren Boston zu meinem zweiten Zuhause gemacht haben.

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Der Anschlag auf den Boston-Marathon 2013

Montag, 15. April 2013, um 14.50 Uhr: Auf der Zielgeraden des Boston-Marathons explodieren im Abstand von 13 Sekunden zwei in Rucksäcken versteckte Sprengsätze, die mit Nägeln und Bleikugeln versetzt sind. Drei Menschen sterben, 260 werden verletzt.

Hinter dem Attentat stecken die Brüder Dschochar und Tamerlan Zarnajew. Auf der Flucht wird Tamerlan am 18. April erschossen. Einen Tag später wird Dschochar verhaftet.

Vor zehn Tagen wurde Dschochar (21) vom Gericht für schuldig erklärt. Das Strafmass wird erst in einem

zweiten Prozessabschnitt bestimmt. Dschochar droht die Todesstrafe!

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