Herr Kretzschmar, Sie bezeichnen Handball als «absoluten Wahnsinn». Könnte man das nicht auch über Fussball oder Eishockey sagen?
Stefan Kretzschmar: Handball ist aufgrund der Härte, der Dynamik und des Tempos die komplexeste aller Teamsportarten. Eishockey ist ähnlich, denen würde ich so eine Aussage auch noch abkaufen. Im Fussball, der sowieso Volkssport Nummer 1 ist, würde darüber aber niemand mit der Wimper zucken.
Sie schreiben, in den 1990er-Jahren seien Nichtraucher und Abstinenzler im Handball brutale Aussenseiter gewesen.
Zu Beginn meiner Karriere in der DDR war das natürlich noch anders. Da ging die Ausbildung des Ostens vor. Nach der Wende war der Kasten Bier in der Garderobe aber normal. Der Teamzusammenhalt war sehr wichtig. Diese Mentalität hat mir natürlich gefallen. Handball fand damals ja noch unter Ausschluss der Öffentlichkeit und ohne ökonomischen Druck statt. Das war alles amateurhaft und erinnerte an die heutigen Bezirksliga-Verhältnisse.
Wieso hat sich dies geändert?
Erstens haben die besseren finanziellen Möglichkeiten auch im Handball zu einer Professionalisierung geführt. Die Spieler können heute gutes Geld verdienen und versuchen deshalb, mit einem seriösen Lebenswandel ihre Karriere zu verlängern. Zweitens befinden sich Sportler aufgrund der sozialen Medien ständig auf dem Präsentierteller, können sich keine Fehltritte mehr leisten. Kein Vergleich zu früher, als es meine grösste Aufgabe war, mich am Trainer vorbei aus dem Hotel zu schleichen.
Kritiker sagen, dadurch seien im Sport die Querdenker und Charakterköpfe verloren gegangen.
Das ist scheinheilig. Welche Querdenker wünscht man sich denn zurück? Die Effenbergs, Baslers und Kretzschmars waren zu ihrer Zeit Vollidioten. Unsere Aussagen hatten kein Gehalt und waren kein intellektueller Beitrag an die Gesellschaft. Das wird heute oft verwechselt. Damals wurden wir von der Generation vor uns doch auch belächelt.
Im Vergleich zu Ihrer Aktivzeit vermissen Sie dafür die klare Hackordnung in der Garderobe.
Die ist tatsächlich verloren gegangen. In der Gesellschaft ist es zu einer Gleichstellung aller gekommen. Das hat nun auch im Sport Einzug gehalten. Klare Hierarchien, wie sie früher die verdienten Spieler noch durchgeboxt haben, sind heute fehl am Platz.
Ex-Nationaltrainer Arno Ehret hat einmal gesagt, Andy Schmid sei fast zu nett, um ein guter Leader zu sein.
Da bin ich anderer Meinung. Andy ist der ultimative Anführer: Was er sagt, hat immer Hand und Fuss. Er geht fair mit seinen Mitmenschen um und hat eine positive Ausstrahlung. So einen Leader hätte ich mir früher gewünscht. Schade, dass er für diese Rolle zu wenig gewürdigt wird.
Wie hat er sich seit seinen Anfängen in der Bundesliga verändert?
Es war früh zu sehen, dass Andy ein ebenso talentierter wie sensibler Spieler ist. Entscheidend für seine Karriere war, dass er einen Trainer bekam, der bedingungslos auf ihn als Nummer 1 gesetzt hat. So konnte er sich zum heute weltbesten Offensivspieler auf seiner Position entwickeln.
Und menschlich?
Zu Beginn wurde Andy natürlich kaum wahrgenommen. Heute versuchen wir, ihn manchmal aus der Reserve zu locken. Er bleibt dann cool, gibt bedachte Antworten. Er kann auch mal selbstkritisch sein, was in der heutigen Zeit schon aussergewöhnlich ist.
Wie beurteilen Sie die anderen Schweizer in der Bundesliga?
Auf Lenny Rubin haben alle ein Auge geworfen. Den hätte ich gerne bei mir in Leipzig gehabt. Leider hat er sich für das ländliche Umfeld in Wetzlar entschieden. Alen Milosevic ist ein Pfundskerl der alten Schule und einer der meistunterschätzten Kreisläufer der Liga. Und so hart wie Samuel Röthlisberger zur Sache geht, frage ich mich, ob der wirklich ein Schweizer ist.
In seiner Aktivzeit in der 90er- und Nullerjahren war Stefan Kretzschmar einer der besten Linksaussen der Welt. Mit dem SC Magdeburg wurde er deutscher Meister und Champions-League-Sieger, mit Deutschland holte er EM-, WM- und Olympia-Silber. Dank seinen frechen Sprüchen, bunten Frisuren und zahlreichen Tattoos wurde der «Handball-Punk» über die Szene hinaus bekannt. Von 2000 bis 2004 bildete er mit Schwimm-Star Franziska van Almsick das Sport-Traumpaar Deutschlands. Seit 2009 arbeitet Kretzschmar als TV-Experte und sitzt zudem im Aufsichtsrat des Bundesliga-Klubs SC DHfK Leipzig. Seine Tochter Lucie-Marie (18) ist deutsche Jugend-Nationalspielerin. Kretzschmars Buch «Hölleluja! Warum Handball der absolute Wahnsinn ist» ist ab Donnerstag im Fachhandel erhältlich.
In seiner Aktivzeit in der 90er- und Nullerjahren war Stefan Kretzschmar einer der besten Linksaussen der Welt. Mit dem SC Magdeburg wurde er deutscher Meister und Champions-League-Sieger, mit Deutschland holte er EM-, WM- und Olympia-Silber. Dank seinen frechen Sprüchen, bunten Frisuren und zahlreichen Tattoos wurde der «Handball-Punk» über die Szene hinaus bekannt. Von 2000 bis 2004 bildete er mit Schwimm-Star Franziska van Almsick das Sport-Traumpaar Deutschlands. Seit 2009 arbeitet Kretzschmar als TV-Experte und sitzt zudem im Aufsichtsrat des Bundesliga-Klubs SC DHfK Leipzig. Seine Tochter Lucie-Marie (18) ist deutsche Jugend-Nationalspielerin. Kretzschmars Buch «Hölleluja! Warum Handball der absolute Wahnsinn ist» ist ab Donnerstag im Fachhandel erhältlich.