Darum gehts
Der Fussball-Gourmet zieht sich zurück. Lange genug hat er Generationen von Spielern geformt und besser gemacht – von Granit Xhaka bis zu Erling Haaland und Jude Bellingham, von Yverdon bis Dortmund. Der Romand hinterlässt tiefe Spuren. Seine Liebe zum Ball wird ihn aber nie ganz loslassen. Die brasilianischen Weltmeister der Siebzigerjahre haben ihn als Kind verzaubert: Gérson, Jairzinho, Pelé und Carlos Alberto. Lucien Favre hält eine Videokassette in der Hand und schwärmt: «Bis heute kommt keiner an diese Spieler heran.» Die Weltmeister-Dokumentation ist ein wichtiges Puzzleteil in der späteren Ära Favre, die nun enden wird.
Blick: Sie haben sich Tag und Nacht um den Fussball gekümmert. Wie geht es Ihnen ohne Ihre grosse Passion?
Lucien Favre: Es geht mir ausgezeichnet. Ab und zu schaue ich dreissig Minuten Fussball – manchmal auch eine Halbzeit oder sogar ein ganzes Spiel. Aber für meinen Geschmack läuft zu viel Fussball. Meisterschaft, Cup, Champions League, Europa League, Conference League, Nations League. Manchmal ist es einfach zu viel.
Sie bestimmen die Sport-Dosis inzwischen selber. Haben Sie sich an diese neue Freiheit gewöhnt?
Ich war immer busy. Jetzt bin ich 68, es ist schnell gegangen. Ich habe mein Alter schon fast vergessen, weil ich immer zu tun hatte, immer eingespannt war. Mit etwas mehr Distanz fällt mir auf, dass die Trainer immer jünger werden. Mit 58 ist man fast schon alt.
In den letzten drei Jahren wurde es ruhiger um Sie.
Es ist gut für mich, so wie es ist. Ich habe mich schon vor längerer Zeit entschieden, weil ich gespürt habe: Alles ist gemacht, es ist genug.
Ihre Frau Chantal dürfte Ihnen zu dieser Erkenntnis gratuliert haben.
Die Familie begrüsst es, dass ich für mich einen guten Schluss gefunden habe. Die private Zeit wird wichtiger. Man will auch die Freunde gemeinsam treffen, das Leben geniessen.
Wird einem das kostbare Gut Zeit schlagartig bewusst, wenn plötzlich enge Vertraute wie der frühere FCZ- Vizepräsident René Strittmatter sterben?
Sein Tod war ein riesiger Schock – für seine Frau, für seine Kinder, für Chantal, für mich, für alle. Mich hat überrascht, wie schnell sich seine Krankheit verschlimmert hat und er gehen musste. René hat extrem viel für mich gemacht. Er war unheimlich wichtig für meinen Weg. Ich habe einen engen Freund verloren.
Am 7. Dezember ist auch der frühere FCZ-Patron Sven Hotz im Alter von 96 Jahren verstorben.
Diese Nachricht stimmte mich traurig. Auch Sven Hotz spielte eine grosse Rolle in meinem Leben. Ich werde ihm immer dankbar sein. Er und René haben mir den Rücken gestärkt, als der FCZ im Winter 2003 in Schwierigkeiten steckte.
Nach Ihrem letzten Engagement in Nizza gab es sicherlich Angebote, die Laufbahn zu verlängern.
Natürlich gab es Anfragen – aus Europa, aus Saudi-Arabien. Ich habe dankend abgelehnt, weil es definitiv fertig ist. Die meisten haben meine Botschaft verstanden. Fragen darf man immer, die Antwort hingegen bleibt klar: Es ist vorbei. Mein Entschluss ist richtig, davon bin ich mehr denn je überzeugt. Sonst stehst du mit 70 noch auf dem Platz. Ich habe genug gemacht, es reicht!
Gibt es noch andere Felder, die Sie interessieren könnten im Fussball? Fliesst Ihr Know-how irgendwann in eine Akademie ein?
Nein, auch das will ich nicht mehr. Ich würde mir sofort wieder viele Fragen stellen: Wie ist das Profil, was braucht es, um etwas korrigieren zu können, um Einfluss zu nehmen? Und dann ist man schon wieder mittendrin im Zirkus. Darauf habe ich keine Lust mehr.
Schweifen wir zurück in den Sommer 1991. Sie haben direkt nach dem Ende Ihrer Laufbahn als Spieler bei Echallens eine Junioren-Equipe übernommen.
Ja, tatsächlich: Ich bin bei den C-Junioren von Echallens eingestiegen – aber nur als Assistenztrainer (Favre schmunzelt). Dann ging es schnell: Nach den A-Junioren habe ich die erste Mannschaft von Echallens übernommen, und wir sind in die Nationalliga B aufgestiegen. Danach war ich eineinhalb Jahre lang Junioren-Chef bei Neuchâtel Xamax. Später haben wir mit Yverdon den NLA-Aufstieg geschafft.
Die erste Cup-Trophäe als Trainer gewannen Sie 2001 mit Servette. Ihr Durchbruch?
Das bleibt unvergessen. Und natürlich bleibt auch der Coup im Europacup haften: Wir haben Hertha Berlin eliminiert, die drei Tage zuvor die Bayern geschlagen hatte. Da wurde wohl Dieter Hoeness (damals Berlins Geschäftsführer, Anmerkung d. Red.) auf mich aufmerksam.
Mit dem FCZ sorgten Sie und Ihr Team am 13. Mai 2006 mit dem Meister-Tor in der 93. Minute beim Double-Meister Basel für landesweite Schlagzeilen.
Es war ein Drama mit einem verrückten und emotionalen Schluss. Die Tumulte, die grenzenlose Freude, das Durcheinander nach Spielschluss. Mich hat vor allem stolz gemacht, dass wir mit dem FC Basel von Christian Gross eine erfahrene Mannschaft gestürzt haben, die in den Jahren zuvor in der Champions League für Furore gesorgt hatte.
Nach dem zweiten Meister-Titelgewinn mit dem FCZ hat Sie Berlins Klubleitung um Dieter Hoeness weggelotst. Lucien Favre in der deutschen Medienmetropole – ein Quantensprung?
Als ich angekommen bin, war der Klub die Nummer 15 der Bundesliga. Bereits in der zweiten Saison spielten wir ganz vorne mit. Ich weiss noch, wie wir im Februar 2009 die Bayern vor 75 000 Zuschauern besiegt haben. Hoeness weinte vor Freude. Berlin tobte, überall war Euphorie, plötzlich war der Titelgewinn ein Thema. Alle träumten.
21 Monate später haben Sie Gladbach in sportlicher Not wundersam gerettet. Jahrzehntelang lebten die Fohlen von der Vergangenheit mit Hennes Weisweiler und Günter Netzer – bis Sie eine neue Ära eingeleitet haben.
Gladbach war Letzter, dann plötzlich in der Qualifikation für die Champions League. Ein englischer Journalist hat den Begriff Borussia Barça entworfen. Es ging alles sehr schnell. Dabei muss man Geduld haben. Denken Sie an Alex Ferguson (13-facher Meister mit Manchester United). Sein Präsident in Manchester musste sieben Saisons lang auf den ersten Titelgewinn warten.
Lucien Favre, 68, Saint-Barthélemy. Via Stammklub Lausanne, Xamax, Genf und Toulouse kommt er zu Servette zurück. Mit den Grenats gewinnt der Spielmacher 1985 den Meistertitel und prägt den Verein ab 1987 zusammen mit dem späteren Bayern-Vorstands-Boss Karl-Heinz Rummenigge. Im Nationalteam bestreitet er 24 Spiele. Als Trainer feiert Favre in den Neunzigerjahren mit Echallens (in die damalige NLB) und Yverdon (NLA) zwei Aufstiege. Mit Servette gewinnt er 2001 den Cup. Seine Bilanz beim FCZ: Cupsieg (2005) und zwei Meistertitel (2006 und 2007). In Deutschland steht Favre bei Hertha Berlin, Mönchengladbach und Borussia Dortmund während total 393 Spielen an der Seitenlinie. Dreimal wird er zum Bundesliga-Trainer des Jahres gewählt. An allen Stationen schafft er mindestens eine Top-4-Klassierung. In der Ligue 1 ist der Romand zweimal für den OGC Nizza tätig.
Lucien Favre, 68, Saint-Barthélemy. Via Stammklub Lausanne, Xamax, Genf und Toulouse kommt er zu Servette zurück. Mit den Grenats gewinnt der Spielmacher 1985 den Meistertitel und prägt den Verein ab 1987 zusammen mit dem späteren Bayern-Vorstands-Boss Karl-Heinz Rummenigge. Im Nationalteam bestreitet er 24 Spiele. Als Trainer feiert Favre in den Neunzigerjahren mit Echallens (in die damalige NLB) und Yverdon (NLA) zwei Aufstiege. Mit Servette gewinnt er 2001 den Cup. Seine Bilanz beim FCZ: Cupsieg (2005) und zwei Meistertitel (2006 und 2007). In Deutschland steht Favre bei Hertha Berlin, Mönchengladbach und Borussia Dortmund während total 393 Spielen an der Seitenlinie. Dreimal wird er zum Bundesliga-Trainer des Jahres gewählt. An allen Stationen schafft er mindestens eine Top-4-Klassierung. In der Ligue 1 ist der Romand zweimal für den OGC Nizza tätig.
Wer war für Sie in Mönchengladbach eine wichtige Bezugsperson?
Mit Präsident Rolf Königs pflegte ich ein enges Verhältnis. Ab und zu haben wir uns zusammen mit den Frauen zum Essen getroffen. Ich mochte es, dass es in der Vereinsleitung von Gladbach kaum Wechsel gab. Die Kontinuität auf diesem Niveau war enorm wichtig für den Erfolg: Menschen wie er, Stephan Schippers (Ex-Finanzchef), Rainer Bonhof (Präsident) und Markus Aretz (Geschäftsführer) und viele mehr sind mir ans Herz gewachsen.
Für viele Borussia-Fans war Ihr Abschied nach einer mehrjährigen und erfolgreichen Zusammenarbeit ein Schock.
Ich will nicht mehr darüber reden. Aber ich habe lange für die Borussia gearbeitet. Welcher Trainer ist denn heutzutage überhaupt noch über viereinhalb Jahre lang für einen Verein tätig?
Nach einer historischen und einer guten Saison bei der OGC Nizza haben Sie in Dortmund unterschrieben. War der Ruhrpott-Gigant BVB die Challenge Ihres Lebens?
Die Herausforderung war immens, ich habe mich trotzdem wohlgefühlt. Eine Sache hingegen bedaure ich sehr: Wir waren nach sechs Monaten die beste Mannschaft Europas, bis im Trainingslager in Marbella Marco Reus sehr krank geworden ist – mit hohem Fieber. In der Rückrunde hat Marco knapp siebeneinhalb Spiele gemacht. Er war nicht mehr in der Lage, seine normale Leistung abzurufen. Der beste Spieler war plötzlich nicht mehr da. Bei der Beurteilung dieser Saison ging sein Ausfall bei vielen Experten total vergessen. Das war kein Detail, sondern ein riesiges Problem.
Ging der Titel deshalb verloren?
Das will ich so nicht sagen, aber sein Ausfall war ein Faktor. Ohne ihn spielten wir am Limit. Er war damals der beste Spieler Deutschlands.
Wo ordnen Sie das BVB-Engagement in Ihrer ganzen Laufbahn ein?
Ich muss mir nichts vorwerfen: Ich habe das Bestmögliche gemacht. Es ist schade, aber ich muss es akzeptieren. Und noch einmal: Der Ausfall von Reus hat viel verändert in diesem Jahr.
Vor vier Jahren haben Sie in letzter Minute einen Vertrag mit dem Premier-League-Verein Crystal Palace abgelehnt. René Weiler wäre ebenfalls an Bord gewesen.
Der Wechsel in die Premier League wäre reizvoll gewesen – auch in Kombination mit René. Es war vor vier Jahren. Die Klubchefs waren bei mir in Saint-Barthélemy. Aber wissen Sie, auch der Präsident von Marseille sass schon hier, und wir haben stundenlang diskutiert. Ich sagte ab, weil das Gefühl nicht stimmte. Crystal Palace überlegte ich mir lange, mein Entscheid reifte kurzfristig. Am Ende musst du deiner Intuition folgen. Das war auch 2012 so, als mich eine Delegation von Bayern München in Düsseldorf besucht hat.
An vielen Stationen haben Sie die Karriere von grossen Spielern in Schwung gebracht. Granit Xhaka sagt: «Ohne Favre wäre ich nicht da, wo ich heute bin.»
Oh, das freut mich. Ach, Granit. Ein wunderbarer Spieler. Seine Karriere ist imposant. Ich verfolge sie genau.
Im ersten Gladbach-Jahr unter Ihnen hat er eine harte Schule durchlaufen müssen. Erinnern Sie sich an die Details?
Es ging darum, sein Umschaltspiel zu verfeinern, sein Spiel mit beiden Füssen zu verbessern. In einem kleinen Feld machten wir Spezialeinheiten: Ballannahme, Drehung und dann mit beiden Füssen sofort eine Anspielstation anpeilen (Favre macht die Bewegungen vor). Wir stellten vier Minitore auf. Ein Ex-Kicker und Physio kümmerte sich zusammen mit Granit um diesen Punkt. Ich habe den Prozess beobachtet und konnte korrigieren. Heute ist das ein wahnsinnig grosses Plus von Xhaka, das hebt ihn ab, das macht sein Spiel so beeindruckend gut.
Den heutigen Real-Superstar Jude Bellingham haben Sie beim BVB offenbar ähnlich detailliert geschult?
Bellingham war 16-jährig. Seine Mutter hat ihn täglich begleitet. Wir haben uns am Anfang gemeinsam um seine Ausbildung gekümmert – meine Co-Trainer und ich. Bei solch jungen Akteuren muss man behutsam sein. Ich erinnere mich an die Geschichte von Jari Litmanen (Champions-League-Sieger mit Ajax Amsterdam). Am Anfang war er bei Amsterdam noch nicht ganz bereit. Danach machte er monatelang Koordinationsübungen, am Ende hat er sich bei Ajax durchgesetzt und entwickelte sich schliesslich zum Weltklassespieler. Bellingham musste wie Litmanen wochenlang die technischen Grundlagen erarbeiten, ehe er durchgestartet ist.
Wie hat damals der junge Ex-Dortmund-Stürmer Erling Haaland auf Ihre Akribie reagiert?
Er wollte Sonderschichten machen. Auch nach dem Training übte man mit ihm – Schüsse aufs Tor, Volley-Übungen. Er sollte Fortschritte machen bei der Ballverarbeitung, beim Thema Orientierung. Die Arbeit mit den Füssen stand für mich im Fokus; kräftig und schnell war er schon damals.
«Er hat mich sehr viel besser gemacht.» Das Kompliment stammt von einem der wildesten Fussballer der Geschichte: vom Italiener Mario Balotelli, der überall als schwierig zu führen galt. Er schoss unter Ihnen 43 Tore in 76 Spielen für Nizza. Wie war das möglich?
Der damalige Nizza-Präsident Jean-Pierre Rivère wollte ihn haben. Nach ein paar externen Informationen war klar: Ja, er kann uns helfen. Mario war im Sechzehner top. Er wollte zu uns kommen, und er war glücklich.
Wie haben Sie es geschafft, diesen Spieler zu dirigieren?
Roberto Mancini ist das auch gelungen. Mario hatte Spass, vor dem Tor zu trainieren. Er musste Volley-Schüsse trainieren, mit beiden Füssen. Der Strafraum war sein Zuhause, die Dribblings, der Abschluss. Das hat ihm gefallen, ich liess ihn gewähren. Deshalb war er auch bereit, hart zu arbeiten und uns zu helfen.
Die finale Frage: Wer hat Sie besser gemacht?
Viele Trainer und Spieler auf der ganzen Welt. Als junger Coach bereiste ich Argentinien und entdeckte in Buenos Aires die Härte, das Unerbittliche, die gnadenlose Jagd auf den Ball. Bei Arsène Wenger habe ich in England viel aufsaugen können. Und natürlich während des Praktikums bei Johan Cruyff in Barcelona. Ich sagte «Bonjour», er kannte mich nicht, öffnete mir aber rund um das Spiel gegen Real die Türen. Seine Schichten waren beeindruckend. Sein Spieler Pep Guardiola musste 30, 40 Minuten lang Flachpässe spielen – Johan bestand darauf, dass kein Ball in der Luft war. Von dieser grandiosen Persönlichkeit habe ich vermutlich am meisten profitiert und viel in meine Arbeit einfliessen lassen.
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