Darum gehts
Im Lift zögert er kurz. Welches Stockwerk muss er drücken? Eine Frau hilft ihm. «Die Zimmer sind angeschrieben.» Tatsächlich steht neben dem Liftknopf für den dritten Stock auch der Name «Martin Ogg».
Ein beschaulicher Raum, Bett, Sitzecke mit Fernseher, drei Fenster, separates WC mit Dusche. Das ist Oggs neues Zuhause – in einem Altersheim mitten in der Altstadt von Schaffhausen.
5500 Franken kostet ihn die Beherbergung pro Monat. Mal etwas mehr, mal etwas weniger, je nachdem, wie viele Dienstleistungen er in Anspruch nimmt. Diesem Betrag sind die Leistungen der Krankenkasse bereits abgezogen. Und es wird noch teurer, denn in Schaffhausen steigen die Zimmerpreise in städtischen Altersheimen ab 1. Januar 2026 um zehn Prozent.
Das Altersheim ist die beste von wenigen Möglichkeiten
Martin Ogg ist mit knapp 57 Jahren noch viel zu jung, um im Altersheim seine Tage und Nächte zu verbringen. Doch ist es für ihn wohl die beste unter den raren Möglichkeiten. Der ehemalige Fussballer bekam 2023 die Schock-Diagnose Frühdemenz. Seither ist in seinem Leben nichts mehr, wie es einmal war. Im Blick hat Ogg wenig später über seine Erkrankung gesprochen, er wollte das Thema öffentlich machen, ging offensiv damit um, nahm an Podiumsgesprächen teil, wollte Betroffenen eine Stimme geben, das Thema aus der Tabuzone holen. Er bereut es nicht.
«Die Reaktionen waren grösstenteils positiv. Und ich wollte mich nicht verstecken. Jetzt wissen alle längst, was Sache ist. Und das ist gut so.» Ogg hat nach der Diagnose eine Frau kennengelernt, die beiden haben geheiratet, gemeinsame Pläne gemacht, reisten nach Thailand, um sich Institutionen anzuschauen, in denen er eine individuell ausgerichtete Betreuung bekommen könnte.
Preislich viel günstiger als die Möglichkeiten in der Schweiz, wo es für junge Demenzerkrankte noch kaum geeignete Plätze gibt. Die für Ogg passende Institution haben die beiden aber auch in Asien nicht gefunden.
Golf als Therapie, Jogging im Garten
Sowieso haben sich die Pläne inzwischen zerschlagen. Das Paar hat sich getrennt, die Scheidung ist vor dem Vollzug. Statt in Thailand fernab seiner Heimat lebt er nun in Schaffhausen, wo er aufgewachsen ist, wo er als Fussballer Höhepunkte erlebt und mitgeprägt hat. Die beiden Cupfinals 1988 und 1994 zum Beispiel, die zwar beide gegen GC verloren gingen, aber im Munotstädtli unvergessen bleiben. Zwei Mannschaftsposter, die an der Wand in seinem Zimmer hängen, erinnern Ogg jeden Tag daran, wer er einmal war.
Er versucht agil zu bleiben, ist öfters in der Stadt unterwegs, geht ab und zu in ein Pub, wo Fussball gezeigt wird und er Freunde trifft, legt noch kurze Strecken auf dem E-Bike zurück, macht Spaziergänge und täglich Sit-ups. Wenn es die Schmerzen in den Beinen zulassen, rennt der frühere Abwehrboss manchmal Runden im Garten des kleinen Parks, der zum Altersheim gehört, dann wird er von den Mitbewohnern neugierig beäugt.
Jeden Donnerstag geht er mit einer Therapie-Gruppe zum Golfen. Dieser Sport verlangt Bewegung, Konzentration und strategisches Denken – gutes Training fürs Gehirn. Und Golfen macht Spass, bringt Abwechslung, soziale Bereicherung. Der Golfplatz befindet sich in Winterberg ZH. Martin Ogg wird bis zum Bahnhof Schaffhausen begleitet, steigt dort allein in den Zug und wird am Bahnhof Zürich-Oerlikon wieder abgeholt und zum Golfplatz gebracht. An guten Tagen, so glaubt er, könnte er das auch noch ohne Begleitung.
Der Fussball gibt ihm Mumm
Oggs Rhythmus ist aus dem Gleichgewicht. Er schläft viel am Tag und wenig in der Nacht. Er hat bessere Phasen, in denen er Pläne schmiedet und schlechtere, in denen viele Tränen fliessen. Die Tagesform variiert wie früher an Matchtagen. Die Prognosen zur Lebenserwartung nach einer Demenzdiagnose variieren stark und sind schwierig zu stellen, weil sie von vielen Faktoren abhängen. Ogg will das Thema Tod nicht an sich heranlassen. «Ich frage mich vielmehr, welche Prüfung Gott für mich da ausgesucht hat.» Auch sein Umfeld spricht das Thema nicht an. Schliesslich erwischt es uns alle, ob mit oder ohne Demenz. Und wer weiss schon, was morgen sein wird.
Der Fussball gibt Ogg Lebensmumm. Er hat sich vor einem Jahr eine Saisonkarte auf der Tribüne gekauft, hat fast alle Heimspiele des FC Schaffhausen live verfolgt und war am Ende der Saison traurig, dass sein Klub abgestiegen ist, für den er so viele Jahre die Schuhe gebunden, die Knochen hingehalten, die Captainbinde übergestreift hat. Sein Herz ist immer noch gelb-schwarz: «Ich hoffe, dass man jetzt in der 1. Liga Promotion einen gesunden Neustart machen kann. Diese Stadt braucht einen erfolgreichen Fussballklub.»
«Dann suchen sie mich»
Kürzlich hat er eine Karte für die neue Saison geschenkt bekommen. Ein schöner Zug der neuen Klubführung, die Identifikation und regionale Verbundenheit wieder grossschreiben möchte – anders als die schwachen Vorgänger. So wird Ogg auch weiter so oft wie möglich an den Heimspielen des FC Schaffhausen dabei sein, was immer auch mit alten Erinnerungen verbunden ist, die viel präsenter sind als die neuen Erfahrungen. Und er möchte noch einmal nach England reisen, sich ein Spiel von Liverpool ansehen. «Diesen Wunsch will ich mir auf jeden Fall noch erfüllen.»
Je länger er sich konzentrieren muss, desto schwieriger wird für ihn das Gespräch. Zunehmend beginnen Oggs Gedanken zu mäandern. In solchen Momenten helfen Fixpunkte: Punkt 18 Uhr muss er im Altersheim beim Essen sein. «Wenn ich da nicht erscheine oder mich nicht abmelde, dann suchen sie mich.» Am rechten Handgelenk trägt er einen GPS-Tracker. Im Portemonnaie befindet sich eine Patientenkarte mit den wichtigsten Informationen, wie Name, Kontaktnummer und Hinweise auf die individuellen Bedürfnisse. Ogg kramt lange nach ihr, findet sie schliesslich unter der abgelaufenen Challenge-League-Saisonkarte des FCS im Seitenfach. Noch kann er sich ziemlich gut orientieren, findet die Wege durch die vertrauten Quartiere. Sollte er sich verirren, kann er mit dem Tracker gefunden werden oder mit der Alzheimerkarte Hilfe bekommen.
Nicht ohne die Tochter
Auf der Karte stehen auch die Kontaktdaten seiner Tochter Michelle Jovanovic-Ogg. Für Angehörige ist die Betreuung eine schwierige Sache. Jovanovic-Ogg ist 26 Jahre alt. Neben ihrem 100-Prozent-Job als Bankfachfrau nimmt die Betreuung ihres Vaters viel Zeit in Anspruch. «Ich stosse manchmal an meine Grenzen, aber lasse mir das ungern anmerken.» Auch dank ihrer Hartnäckigkeit ist ihr Papi vom städtischen Altersheim schliesslich aufgenommen worden, was alles andere als selbstverständlich ist, denn die Nachfrage nach Zimmern ist gross. Der Vertrag läuft auf unbestimmte Zeit.
Die administrativen Dinge, die Michelle Jovanovic-Ogg für den Vater erledigt, sind das eine, die emotionale Komponente, die schwer wiegt, etwas ganz anderes. «Ich versuche, so gut es geht, für ihn da zu sein. Manchmal ist das schwierig, weil man keine Energie hat, müde ist, traurig oder wütend auf die Welt.» Wie bei ihrem Vater ist auch bei der Tochter die Tagesform entscheidend, Ups und Downs wechseln sich ab. Zusammen wollen die beiden das Beste aus der Situation machen. Sich an den kleinen Dingen freuen und aus den gemeinsamen Tagen all das Gute nehmen, was diese noch anbieten.