Jörg Stiel sitzt auf einem Barhocker im Goldenen Schäfli. Im Fumoir eines Zunft-Restaurants mitten in St. Gallen. Der ehemalige Nati-Goalie bestellt ein Bier.
BLICK: Herr Stiel, wir treffen uns hier in einer Raucher-Bar. Erstaunlich, schliesslich waren Sie Spitzensportler und Nati-Goalie.
Jörg Stiel: Wissen Sie, wenn ich rede, rauche ich auch gerne mal eine Zigarette. Und Sie wollen mit mir ja darüber reden, dass ich nach meiner Karriere psychologische Hilfe brauchte. Ich muss mit dem Jahr 2001 beginnen. Damals wechselte ich zu Borussia Mönchengladbach in die Bundesliga. Ich war sechs Jahre lang verheiratet, wir hatten zwei Mädchen. Mit der ganzen Familie, die ich stets aus den Medien raushalte, zogen wir nach Deutschland. Fussballerisch waren es bis 2004 drei der tollsten Jahre meines Fussball-Lebens.
Was passierte dann?
Ich spürte, dass ich mich jahrelang selbst belogen hatte. Dass mich vor allem der Fussball über Wasser gehalten hatte. Dass ich alles, was in meiner Ehe nicht stimmte, ausgeblendet hatte.
Erklären Sie.
Ich spürte, dass es in meiner Ehe nicht mehr stimmte. Aber hey, dann gehst du Fussball spielen, und alles ist in Ordnung. Du vergisst deine Eheprobleme. Nur: Dann ist der Fussball plötzlich weg. Du musst dich neu definieren. Du stehst nicht mehr im Rampenlicht. In Deutschland war ich Bundesliga-Captain, einer von 18 auf 84 Millionen Einwohner. Dann ist es vorbei. Alles, was du danach erlebst, ist im Vergleich zu den Spielen ein Kindergeburtstag. Meine Ehe ging dann ein Jahr nach dem Karriereende in die Brüche.
Warum?
Ich wusste nach der Karriere nicht, wer ich bin und was ich kann. Ich machte vier Monate lang gar nichts. Dachte immer: Jetzt ziehen wir in die Schweiz, bauen ein Haus, die Kinder werden eingeschult. Alles wird gut. Aber es wurde nicht gut dann.
Wieso nicht?
Im Nachhinein muss ich zugeben: Meine Ex-Frau und ich, wir kannten uns auch nach all den Jahren zu wenig. Mit 24, 25 Jahren wusste ich nicht, was für ein Mensch ich bin und was ich brauche. Während unserer zehnjährigen Ehe habe ich dann nicht an der Beziehung gearbeitet. Habe mit ihr alles zwischen Tür und Angel besprochen. Statt gemeinsam am Tisch zu sitzen und über alles zu reden. Ich hatte immer das Gefühl: Es geht schon irgendwie. So stauten sich die Dinge, bis ich irgendwann nicht mehr fähig war, sie aufzuarbeiten. Mein Vater sagte mal: «Liebe ist nicht, wenn man einander in die Augen schaut. Liebe ist, wenn man zusammen in die gleiche Richtung schaut.» Das machten wir nicht. Eines Tages zog ich aus, verliess meine Familie. Meine kleine Tochter war fünf, die grosse sieben Jahre alt. Es war ein Schock, weil ich mein ganzes Bild zerstörte.
Inwiefern?
Ich komme aus einer traditionellen Familie. Keine Scheidungen, nichts. Ich hatte gegenüber den Kindern ein wahnsinnig schlechtes Gewissen, weil ich es war, der nicht mehr so weiterleben wollte und abhaute. Von da an fiel ich immer tiefer.
Heisst: Sie haben sich zuerst mal regelmässig mit Alkohol abgeschossen.
Natürlich hatte ich zu Beginn die Tendenz, den Schmerz zu betäuben. Damit ich schlafen konnte.
Haben Sie zu Hause oder unter Leuten getrunken?
Zu Hause. Aber auch nicht in einer exzessiven Art. Ich habe ja dann eine Firma mit meinem Partner gegründet. Wir machen den Generalimport von Reusch, Torwart- und Skihandschuhe, und vertreten fünf weitere Labels in der Schweiz. Ich habe in der Zeit viel fürs Fernsehen gearbeitet, was gar nicht zuliess, dass ich nicht hundertprozentig klar und fit war.
Waren Sie zu jener Zeit Alkoholiker?
Nein. Klar: Ich trinke gern Wein und Bier. Ich bin ein Genuss-Mensch, zum Essen nehme ich gerne ein Glas Wein. Wenn man das Wort «Wohlstands-Alkoholiker» brauchen kann, dann wäre ich das vielleicht in den Augen einiger Menschen. Ich habe keine Probleme mit Süchten, ausser den Zigaretten (lacht, zündet sich eine an).
Sie gingen zu einer Psychologin. Wie kam das?
Im Frühling 2005 wohnte ich bei einem Freund. Eines Morgens war meine Brust wie zugeschnürt. Ich ging zu Noldi Jäger, dem ehemaligen Mannschaftsarzt des FC St. Gallen. Er checkte die Blutwerte, untersuchte mich und sagte: «Du bist kerngesund ...» Noldi prägte den Satz: «Wenn es die Psyche nicht gäbe, wäre ich ein arbeitsloser Mann.» Von da an wusste ich: Ich habe ein psychisches Problem. Ich funktioniere nur noch, fühle aber nichts mehr.
Litten Sie an Depressionen oder an einem Burnout?
Nein. Das sind zwei Schlagworte. Es ist zu simpel, sich dahinter zu verstecken. Und es sind Krankheiten, bei denen du dir nicht mehr selber helfen kannst. Ich konnte noch aufstehen und funktionieren. Aber ja, als ich an einem Seminar über Druck redete und einer der nachfolgenden Referenten das Burnout-Syndrom thematisierte, fiel mir auf, dass sechs der zehn aufgezeigten Symptome auf mich zutrafen (lacht).
Wie fanden Sie Ihre Psychologin?
Erst ging ich zu einer Dame, die esoterisch angehaucht war. Die Verbindung zu ihr stimmte aber nicht so. Beim Rausgehen nahm ich einen Flyer mit. «Familien-Therapie», stand da drauf. Das Falsche, dachte ich, ich habe ja keine Familie mehr ... Dann entdeckte ich, dass man auch Einzelsitzungen machen kann. Ich ging zu jener Frau, sie wurde meine Psychologin.
Wie liefen die Sitzungen ab?
Einmal in der Woche lief ich mit ihr durch den Wald. Jede Sitzung. Wenn du spazierst, sprichst du einfacher. Da habe ich vom Urschleim bis heute alles aufgearbeitet. Schritt für Schritt durch den ganzen Dschungel meines Lebens von der Geburt bis heute. Ich wollte wissen: Warum schaue ich in gewissen Situationen weg? Im Fussball war es einfach: Da war der Ball, und ich wusste, was zu tun ist. Aber wie verhalte ich mich in Beziehungen? Auch in der Beziehung zu mir. Das war schwierig. Ich habe gelernt, den Fehler bei mir zu suchen, nicht bei anderen.
Hätten Sie als Fussballer auch zugegeben, psychologische Hilfe zu brauchen?
Schwierige Frage. Klar, wenn du in ein Stadion läufst, kannst du nicht wie ein Sack Muscheln daherkommen. Sonst wirst du sofort fertiggemacht, das nehmen die Zuschauer wahr.
Robert Enke warf sich wegen Depressionen vor den Zug. Hatten Sie Selbstmordgedanken?
Nein, nicht mal im Ansatz.
Das Zugeben von psychischen Problemen ist im Fussball immer noch ein Tabu. Verstehen Sie auch, dass sich kein schwuler Fussballer bisher geoutet hat?
Ja. Schwul sein und Fussball, das geht nicht im Volksdenken. Wenn du in Dortmund ins Stadion vor 80 000 Fans läufst, nachdem du dich geoutet hast, das geht nicht. Was glauben Sie, was da los wäre? Das Verständnis, dass du im Stadion auf dem Platz als Mensch giltst, gibt es nicht. Vergessen Sie’s. Für einen Schwulen wäre es die Hölle.
Fehlten Ihnen nach dem Rücktritt die Glückshormone, die der Sport auslöst?
Nein. Die hatte ich ja. Jedes Mal, wenn mir eine Hose zu eng wurde, habe ich wieder angefangen, im Kraftraum zu schuften. Übrigens: Es zwickt mich in diesen Tagen wieder. Ich sollte mehr machen (lacht).
Haben Sie finanziell ausgesorgt?
Nein. Das ist auch so ein langweiliges Thema. Das spürte ich, als meine Tochter aus der Schule kam und sagte: «Ein Junge in der Klasse sagt, wir hätten viel Geld, Papa. Haben wir viel Geld?» Ich sagte: «Wenn du einen Jungen kennenlernst, überlegst du dir, ob er viel Geld hat?» Das nervt schon, wenn deine eigenen Kinder mit solchem Mist belastet werden.
Wie ist das Verhältnis zu Ihren Töchtern heute?
Super, ich habe täglich Kontakt zu Ihnen. Seit zwei Jahren lebe ich nun übrigens glücklich in einer neuen Partnerschaft.
Half Ihnen der Glaube durch die schwere Zeit?
Ich bin Katholik, zahle meine Steuern. Die Kirche ist für mich aber ein Problem, auch wenn ich vor dem Papst im Moment grossen Respekt habe, weil er einfach gesagt hat: «Schluss!» Aber eben, mit der Kirche habe ich mein Problem. Wir haben Afrika, Aids, und man verbietet weiter Kondome. Und das Ganze mit dem Zölibat, naja. So wie ich lebe, entspricht der Buddhismus mehr meiner Lebensweise. Aber ohne zu konvertieren. Der Buddhismus sagt: Schau auf dich. Das heisst: Wenn ich mich mit einem Menschen wohl fühle, dann ist das gut.
Ein Freund von Ihnen war Ex-GC-Spieler Adrian De Vicente. Er starb vor einem Jahr in Buenos Aires.
Das war ein Schock. Ich feierte Silvester 2012 bei seiner Familie in Argentinien. Ein paar Wochen darauf sitze ich im Kino, Martin Andermatt ruft mich an. Ich gehe nicht ran, er schreibt mir, Adrian sei tot. Da dachte ich: Lieber Gott, warum machst du das? Was hast du dabei überlegt? Je älter wir werden, desto mehr Menschen verlieren wir. Meine Grossmutter hatte acht Geschwister, überlebte alle. Sie starb übrigens im Mai 2000, es war ein unglaublicher Tag. Morgens tauften wir unsere Tochter. Abends wurde ich mit St. Gallen Meister, weil Basel in Genf unentschieden spielte. Und dann starb meine Oma, mit der ich ein inniges Verhältnis habe. Alles an einem Tag. Das Leben ist manchmal verrückt.
Veränderten solche Tage Ihr Leben?
Inzwischen bin ich so weit, dass ich ans Schicksal glaube. Das Todesdatum jedes Menschen steht fest. Darum lebe und fühle ich mein Leben in vollen Zügen. Es geht so schnell vorbei. Man muss es geniessen.
Jörg Stiel lächelt. Er zündet sich noch eine Zigarette an.