Die neue Heimat von Granit Xhaka
Sunderland – arm, aber sexy!

Sunderland, einst stolze Stadt Englands, kämpft heute mit Arbeitslosigkeit und Armut. Der Fussballklub ist das Herz, doch verschwand über Jahre in der Unterklassigkeit. Zwei Schweizer haben dieser fussballverrückten Stadt wieder Leben eingehaucht.
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Foto: TOTO MARTI
Zu Besuch in Sunderland: Das ist die neue Heimat von Granit Xhaka
Publiziert: 09:48 Uhr
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Aktualisiert: vor 19 Minuten

«Ich kann nicht anders, als mich in dich zu verlieben», singen die Sunderland-Fans vor und nach ihren Heimspielen mit ihrer Hymne «Can’t Help Falling in Love» von Elvis Presley. Der Klub im Nordosten Englands ist ein Paradebeispiel dafür, wenn Fussballfans sagen: Im Leben können sie mehrmals ihren Partner wechseln, aber niemals ihren Verein. Blick macht sich im Rahmen des zweiten Heimspiels gegen Brentford ein Bild von der neuen Heimat Granit Xhakas. Eine der Städte auf dieser Welt, wo der Fussball über allem steht. 

Das Stadium Of Light ist der Mittelpunkt der Stadt.
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«Der Klub ist unsere Identität, unsere Religion. Der AFC Sunderland ist alles, was wir noch haben. Ob jung oder alt, Frau oder Mann – und beinahe wurde uns auch noch das genommen», erklärt unser Uber-Fahrer Rejwan. Er ist Sohn einer Einwandererfamilie, den Fussballklub Sunderlands trägt er ein Leben lang im Herzen. Sieben Jahre lang war der Traditionsverein in der Unterklassigkeit verschollen, zeitweise drohte der totale Absturz in die Irrelevanz des englischen Fussballs. «Wenn es dem Verein schlecht geht, geht es der ganzen Stadt noch schlechter», sagt der 38-Jährige.

Erschreckende Zahlen sorgen für Weggang der Bevölkerung

«Diese Stadt war einst die stolze und grösste Schiffbauer-Stadt der Welt, Zehntausende gingen einer ehrlichen Arbeit im Kohlebergbau nach. Sunderland war mal jemand auf der Karte Englands», so Rejwan weiter. Die Realität in den letzten Jahrzehnten hat sich drastisch verändert. Die Innenstadt ist geprägt von leerstehenden Laden- und Gastrolokalen, ein Shop der Billigkleidungskette Primark ist so etwas wie die Hauptattraktion. 

Sunderland ist geprägt von leerstehenden Laden- und Gastrolokalen.
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In gewissen Quartieren türmt sich der Abfall neben Wohnhäusern und Gehwegen. Eine tote Möwe kann man auf dem Trottoir schon mal antreffen. An vielen Ecken ist erkennbar: Diese Stadt kämpft. Vom einstigen Stolz kaum eine Spur. Die Arbeitslosigkeit liegt über dem englischen Durchschnitt, das wöchentliche Einkommen darunter – mit etwas über 600 Pfund pro Woche. Die Zahl, der in Armut lebenden Kinder in Sunderland lag in den vergangenen Jahren teils bis zu 40 Prozent

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Granit Xhaka startet in den Arbeitstag.
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Eine erschreckende Zahl. Kein Wunder also: Die Stadt schrumpft. Junge Menschen verlassen Sunderland mangels Perspektiven, ziehen hinaus ins Land. Rund jede fünfte Person, die in der Stadt lebt, ist gemäss dem Statistikamt 65 Jahre alt oder älter. «Viele Leute haben über Jahrzehnte zwar die Stadt verlassen, aber nie ihren Fussballklub», erzählt uns der 49-jährige James in einem der wenigen modernen Restaurants unweit des Stadions. Er bemerkt, dass wir am Nebentisch über Fussball sprechen, und will uns umgehend seine Erlebnisse erzählen.

Aus ganz England reisen die Fans an Matchtagen an.
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Er gehört zu jenen, die Sunderland als Wohnort lange hinter sich gelassen haben, aber jede Woche mit seiner Ehefrau durch ganz England reist für seinen Fussballklub. Damit ist er nicht alleine. Die Stadt ist arm geworden, aber der Fussball macht sie noch sexy. Für jedes Heimspiel reisen Tausende Fans aus ganz England zurück zu ihren Fan-Wurzeln nach Sunderland. Die Züge aus London? An Matchtagen rappelvoll. «Es sind für viele neben Weihnachten die einzigen Tage, an denen ihre Familien zusammenkommen.»

Küstencharme und Gastfreundschaft

Umso schwerer war die Zeit der Unterklassigkeit und Erfolglosigkeit. «Mir persönlich hat es das Herz gebrochen, vielen meiner Freunde ging es gleich. Es war für die Menschen hier ein anderes Leben, eines, das viel weniger Spass gemacht hat», sagt James. Doch so rau das Leben in Sunderland auch sein mag, unterkriegen lässt man sich nicht. Schliesslich gibt es auch positive Seiten: der englische Küstencharme, lange Strände und viel Natur, Grossprojekte zur Aufwertung der Stadt sind im Bau. Bei allen Schwierigkeiten und teils Elend geht man zudem anständig und respektvoll miteinander um.

Sunderland bietet Wind, Kaffees und lange Sandstrände, die zum Flanieren einladen.
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Mehr sogar: Die Gastfreundschaft, die uns beim Besuch in Sunderland entgegenkommt, ist aussergewöhnlich. Egal ob im Taxi, Pub, Café, Restaurant, Hotel oder beim Stadion – die Leute sind begeistert, dass Schweizer zu Gast sind, erzählen über ihre Leidenschaft zum Klub, ihre jahrzehntelange und in der Familie verankerte Verbindung zum Verein. Alle haben ihre einzigartigen Erlebnisse, die sie mit uns teilen. Und alle kriegen nicht nur bei den Erzählungen über ihre grosse Liebe funkelnde Augen, sondern auch beim Thema Schweiz.

Zwei Schweizer Könige regieren die Fussballstadt

Zwei Schweizer sind es nämlich, die die Leute in Sunderland nach langer Leidenszeit wieder vor Stolz platzen lassen. Einer ist am 30. Juli im Nordosten Englands vorgestellt worden und trägt neuerdings die Kapitänsbinde sowie die Rückennummer 34 ihres Klubs: Granit Xhaka. «Jeden Tag muss ich mich selber picksen, um zu realisieren, dass es kein Traum ist, dass wir diesen Spieler in unserem Klub haben», erzählt uns Anhängerin Grace vor dem Stadium of Light. Ihr 11-jähriger Sohn hat sich vor Spielbeginn ein Leibchen von Xhaka im Fanshop gekauft. Er habe sein ganzes Erspartes mitgenommen für das schwarze Auswärtstrikot mit der 34 und der schwarzen Katze, angelehnt an den Klub-Spitznamen Black Cats.

Der Nati-Captain habe mit seinem Wechsel einer ganzen Stadt das Gefühl gegeben, dass man in Sunderland wieder jemand sei. Auch dieser Junge ist Fan von ihm.
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Man könne in der Schweiz vermutlich gar nicht nachvollziehen, was dieser Transfer für die Leute und die Fans in Sunderland bedeute. «Viele Junge sehen uns als Sprungbrett, wollen möglichst schnell wieder weg aus Sunderland, so ist der Markt. Xhaka aber, der ist auf dem Höhepunkt seiner Karriere und kommt in unsere Stadt, um uns noch einen Teil seiner besten Fussballerjahre zu schenken.» Der Nati-Captain habe mit seinem Wechsel einer ganzen Stadt das Gefühl gegeben, dass man in Sunderland wieder jemand sei. «Das ist noch viel mehr wert als die Pässe, Flanken und Tacklings, die er in unseren Farben machen wird. Ich habe Freunde, die geweint haben vor Freude, als die Bestätigung erfolgte», erzählt Uber-Fahrer Rejwan, als wir ihn auf den neuen Schweizer Star von Sunderland ansprechen.

«War vom ersten Tag klar, dass er unser Captain ist»

Beim Klub selber ist man sich des emotionalen Wertes dieses Transfers natürlich bewusst. Die Trikotverkäufe vom Schweizer Leitwolf sind hoch, die ersten Bestellungen erfolgten bereits vor der Vorstellung. Der primäre Grund für die Verpflichtung Xhakas aus Sicht des Klubs ist allerdings seine Erfahrung. Mit 225 Premier-League-Spielen hatte der 32-Jährige bei der Ankunft viel mehr Erfahrung in der höchsten englischen Liga als alle anderen Spieler zusammen.

Xhakas Trikot wurde in kürzester Zeit zum Bestseller.
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«Er ist auf und neben dem Platz ein extrem wichtiger Spieler für uns, er übernimmt die Kontrolle, kommuniziert viel und gibt uns damit auch Selbstvertrauen», sagt Mitspieler Enzo Le Fée. Er sei überrascht gewesen, als er erstmals vom möglichen Xhaka-Transfer gehört habe. «Er kennt die Premier League besser als all seine Mitspieler zusammen, er kennt den Fussball besser, er weiss, was es für den Erfolg braucht. Da er zu all dem auch noch menschlich ein Supertyp ist, war es für alle vom ersten Tag an klar, dass er unser neuer Captain ist», so der Franzose.

«Granit zeigt, dass der Lernprozess nie aufhört»

Auch Régis Le Bris (49) ist Franzose und der Trainer von Sunderland. Unaufgeregt, ruhig, analytisch und immer wieder mal mit einer guten Prise Humor spricht er bei unserem Besuch auf dem Trainingsgelände über die ersten Wochen als Premier-League-Trainer. Er sei detailversessen, wie man es noch nie zuvor gesehen habe, heisst es beim Klub. Ein hochanständiger Mensch, der vor allem einen sehr guten Draht zu den zahlreichen jungen Spielern pflegt.

Im vergangenen Sommer ist er mit Ex-Klub Lorient abgestiegen, wechselte zu Sunderland und schaffte das Aufstiegsmärchen. «Hätten Sie uns nach dem Aufstieg geglaubt, wenn wir Ihnen gesagt hätten, dass Ihr Klub rund 200 Millionen investiert und Spieler wie Granit Xhaka verpflichten wird?», wird Le Bris von einem Journalisten gefragt. «Ich weiss es nicht, vermutlich nicht», antwortet er. Es wird lautstark gelacht im Presseraum.

Auch Trainer Régis Le Bris (49) ist begeistert von seinem Captain.
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Le Bris erzählt uns eine Anekdote der ersten beiden Ligaspiele, in denen der Nati-Captain jeweils eine Rede an das Team gehalten habe nach Abpfiff. Nach dem Sieg gegen West Ham zum Ligaauftakt habe Xhaka dem Team sofort zu verstehen gegeben, dass man bescheiden bleiben müsse. Nach der ersten Niederlage gegen Burnley sei der Captain sehr hart ins Gericht gegangen mit dem Team, aber vor allem auch mit sich selber. «Wir sind ein junges Team, wir werden noch viele Fehler machen, aber wir müssen daraus lernen, und Granit zeigt, dass dieser Lernprozess nie aufhört. Auch hier ist er Vorbild», sagt Le Bris.

Chauffeur und Playstation

Es sei für einen Trainer ein Privileg, einen Spieler auf diesem Level in den eigenen Reihen zu wissen. Der Trainer gibt ausserdem zu, dass der 32-jährige Basler bei einem Punkt schon jetzt sämtliche Erwartungen übertreffe: «Ich habe erwartet, dass Granit eine starke Einstellung und Mentalität an den Tag legen würde, doch was ich tagtäglich im Training, auf und neben dem Feld erlebe und sehe, ist aussergewöhnlich.»

Sunderland ist die Heimat der Black Cats, was nicht zu übersehen ist.
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Neben einer Ablösesumme über 15 Millionen Euro und einem Brutto-Wochenlohn von 140’000 Pfund gelang es dem Klub vor allem, Xhaka mit dem Projekt und den Emotionen rund um den Verein für die Aufgabe zu begeistern, so heisst es. Wie viele der grossen Fussballer in der Region hat auch Xhaka in der Region Newcastle, dem Erzfeind der Black Cats, Quartier bezogen. Während der Länderspielpause flogen viele Zügelkisten von Düsseldorf in den Nordosten Englands.

Dem Linksverkehr geht der Nati-Captain zumindest an Trainingstagen noch aus dem Weg. Ein Mercedes-Bus bringt Xhaka von zu Hause aufs Trainingsgelände in Sunderland und wieder zurück. Dieser soll dem Vernehmen nach mit einem Fernseher und einer Playstation ausgestattet sein.

Das Granit-Mobil: Mercedes-Bus mit TV und Playstation.
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Schweizer Klubboss ist viel mehr als nur Milliardärssohn

Der Xhaka-Coup, der viele Beobachter in England überrascht hat, war Chefsache beim Klub – und ist der zweite Grund, wieso Sunderland-Fans funkelnde Augen bekommen, wenn es um die Schweiz geht: Kyril Louis-Dreyfus. Im Alter von gerade mal 23 Jahren hat der Sohn einer milliardenschweren Unternehmerfamilie den Klub in der dritthöchsten Liga übernommen, kurz vor dem Abgrund und mitten in der Corona-Pandemie. 

Neben Granit Xhaka hat Sunderland noch einen zweiten Schweizer König: Kyril Louis-Dreyfus.
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Heute ist der Zürcher 27 Jahre alt – und Besitzer eines Premier-League-Klubs, zwei Stockwerke weiter oben im englischen Fussball und im höchsten Regal des Weltfussballs. «Wir hatten viele Besitzer, die viel Geld hatten. Kyril ist der erste, der es intelligent investiert», erzählt uns Grace.

Das Vertrauen in den Schweizer Klubboss ist gross, schliesslich habe er von den Besten gelernt: von seinem Vater Robert Louis-Dreyfus. Dieser war unter anderem einst Mitbesitzer von Standard Lüttich und langjähriger Hauptanteilseigner von Olympique Marseille. Die märchenhafte Erfolgsgeschichte seines Sohnes hat der 2009 verstorbene Vater leider nicht mehr erlebt. «Premier League. This one’s for you. Your love for the game lives on. We miss you», postet Louis-Dreyfus kurze Zeit nach dem sensationellen Aufstieg im Playoffinal auf Instagram. «Premier League. Das ist für dich. Deine Liebe für das Spiel lebt weiter. Wir vermissen dich.»

Auf allen Ebenen ist der Einfluss des Zürchers spürbar, heisst es im Klub. 24 Stunden, 7 Tage sei er involviert, verschicke nach Mitternacht die letzten E-Mails und sei am Morgen der erste, der wieder in einem Call sei.
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Kyril Louis-Dreyfus ist aber nicht nur Inhaber und Investor. Auf allen Ebenen ist der Einfluss des Zürchers spürbar, heisst es im Klub. 24 Stunden, 7 Tage die Woche sei er involviert, verschicke nach Mitternacht die letzten E-Mails und sei am Morgen der erste, der wieder in einem Call ist. Trotz jungen Jahren, sei er ein harter Verhandlungspartner, versuche immer das Maximum aus einem Deal herauszuholen – es ist ja auch sein Geld.

In guten und schlechten Zeiten

Nach dem Wiederaufstieg und zuletzt zwei Heimsiegen vor vollem Haus ist die Euphorie gross. Dennoch ist Louis-Dreyfus nicht präsent in der Öffentlichkeit. Interviews gibt er keine. Er habe keinerlei Bedürfnis, im Rampenlicht zu stehen, heisst es rund um den Verein. Sein Privatleben zu schützen, sei ihm mindestens genauso wichtig wie der Fussball, sagen andere.

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Und auch er weiss, so gross die Euphoriewelle gerade ist. So zerbrechlich ist dieses Verhältnis mit leidenschaftlichen Fangruppen im Fussball auch. «Du kannst neun von zehn Sachen richtig machen, wenn eine schlecht läuft, kann alles kippen. Die Leidenschaft macht die Fanbeziehung in Sunderland so schön wie auch fragil», erklärt ein Verantwortlicher des Klubs.

Alle sind sich bewusst, dass in den kommenden Monaten auch schwere Zeiten kommen werden. Glaubt man den in Grossbritannien beliebten Wettquoten, gehört Sunderland zu den klaren Abstiegskandidaten. Nach 38 Spieltagen wird abgerechnet. Und bis dahin wird in guten wie in schlechten Zeiten gesungen: «Ich kann nicht anders, als mich in dich zu verlieben.»

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