Geboren am 21. April, 26 Jahre alt, Sternzeichen Stier. Bodenständig, bescheiden, verlässlich – so steht es im Horoskop. Passt. Géraldine Joséphine Reuteler war an der Fussball-EM 2025 das Gesicht eines ganzen Teams. Das Wunderkind ist nicht das Sprachrohr der Nati wie Capitana Lia Wälti, keine Selfie-Königin wie Alisha Lehmann, kein lauter Star wie Ana Maria Crnogorčević. Und doch die prägendste Figur dieses Turniers: In der Gruppenphase trifft sie zum wichtigen 1:0 gegen Island, legt gegen Finnland das erlösende 1:1 auf. Dreimal wird sie zum «Player of the Match» gewählt – als einzige Spielerin dieser EM. Das hat vor ihr noch keine Schweizerin geschafft. Und kein Schweizer. «Ja, ich bin stolz auf meine Leistung», sagt Reuteler etwas verhalten. «Aber das wäre ohne das Team nie möglich gewesen. Ich bin stolz auf jede Einzelne von uns.»
Jetzt steht sie vor ihrem Elternhaus: dort, wo alles begann. Neben ihr flattert eine rot-weisse Fahne mit dem handgeschriebenen «Go Géry!»-Schriftzug – von ihrer Mutter Evelyne (61) extra für die EM gemacht. Ruhig ist es im idyllischen Stans NW. Zumindest draussen. Denn wer mit vier Brüdern aufwächst, lernt früh, dass Stille ein Ausnahmezustand ist. Alle sind heute zu ihren Ehren versammelt, wollen ihre Géry feiern. Die Eltern sind geschieden, leben getrennt. Die beiden Älteren, Joël (31) und Julien (29) sind ebenfalls ausgezogen.
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Mit ihnen und Maurice (24) kickte sie früher im Zimmer, in der Stube, im Garten. Thierry (24) war der Schiedsrichter: «Ich finde Fussball immer noch blöd.» Die Familie lacht. Zu sechst sitzen sie am Esstisch, schwelgen in Erinnerungen. «Früher haben wir immer im Garten gespielt, wir hatten zwei Tore aufgebaut. Tag und Nacht haben wir da verbracht», erinnert sich Géraldine. Mama Evelyne seufzt: «Ich hatte einst einen schönen Rosengarten und einen Gemüsegarten – aber alles ist kaputtgegangen. Und von Vasen, Salatschüsseln und Deko brauchen wir auch nicht zu reden – was da schon alles zerdeppert wurde!» Sie winkt lachend ab. «Das ist der Preis für so eine Fussballerhorde!»
Fussball statt Ballett
1999 freute sich Evelyne Reuteler, als sie nach zwei Buben endlich ein Mädchen bekam. Sie selber tanzte 30 Jahre Ballett und schickte die kleine Géry mit vier Jahren ebenfalls in die Tanzstunde. Nach einer Woche sagte diese: «Mami, ich wott lieber tschutte.» Dass Géraldine Reuteler als einziges Mädchen aber mal der Fussballstar am Tisch sein wird, damit rechnete keiner. «Superstar werde ich aber nicht gern genannt», interveniert sie schnell. Ihre vier Brüder protestieren sofort lautstark und rufen durcheinander: «Sei nicht so bescheiden! Du hast eine top Leistung gebracht!» Und: «Du warst die Spielmacherin! Ohne dich wärt ihr niemals so weit gekommen. Du bist ein Superstar, ob es dir passt oder nicht!»
Das Powerbündel machte seine ersten Schritte beim FC Stans, wechselte dann zum FC Luzern. Seit sieben Jahren spielt Reuteler in der deutschen Bundesliga für Eintracht Frankfurt. Und seit 2017 ist sie ein Teil der Schweizer Nati. Schon im Vorfeld war klar: Diese EM soll Veränderung bringen. Sichtbarkeit. Aufschwung. Doch die Wochen davor waren schwer. Die Nati verlor alle Spiele in der Nations League, stieg ab. Dann kam die schmerzhafte Niederlage gegen die U15-Junioren des FC Luzern – und die Häme in Medien und sozialen Netzwerken war heftig.
Mama Evelyne erzählt: «Das hat mich sehr traurig gemacht. Ich fragte mich, ob die Leute überhaupt für die Mädchen auftauchen werden.» Doch sie kamen. In Scharen. Und in einer Zahl, die es so nie zuvor gab. 657 291 Fans verfolgten die Spiele live – neuer Rekord! «Das, was an dieser EM passiert ist, können wir nicht beschreiben», sagt Evelyne, «ich kriege Hühnerhaut, wenn ich daran denke.» Und Géry ergänzt: «Es ist besser als alles, was wir uns je erträumt haben. In Neuseeland an der WM letztes Jahr waren gerade mal 20 Fans vor Ort. Und nun war das ganze Stadion rot-weiss!»
Ibiza-Urlaub
Dass für die Nati im Viertelfinal gegen Spanien Schluss war: bitter. Doch etwas anderes war noch schwerer zu verkraften: «Ich war acht Wochen lang mit den Mitspielerinnen auf engstem Raum. Wir haben in der Kabine alle geweint, weil wir wussten: Die gemeinsame Zeit ist jetzt vorbei», erzählt Géry. Auch Familie Reuteler trifft das Ausscheiden hart. «Das Turnier war emotional sehr streng für uns», sagt Thierry. Und sein Zwillingsbruder Maurice fügt hinzu: «Plötzlich ist die Bubble geplatzt, und es kam eine ganz grosse Leere.» Géry und die Schweizer Nati füllen dieses schwere Gefühl mit Urlaub. Zu zwölft reisten sie nach Ibiza, um die Zeit zusammen abzuschliessen.
Für Reuteler geht es jetzt wieder nach Frankfurt, wo sie in einer Dreizimmerwohnung lebt. «Es wird mir komisch vorkommen, nach so vielen Wochen alleine zu sein. Ich werde mich wieder daran gewöhnen müssen.» Wie lange sie noch bei Eintracht Frankfurt im Sturm spielen wird, steht in den Sternen. Ex-Nati-Captain Alex Frei lobte sie kürzlich im «Blick»-Podcast und schätzte ihren Marktwert auf 80 Millionen Franken – wenn sie ein Mann wäre. Diesen Wert erreicht in der Schweiz nur Manchester-City-Verteidiger Manuel Akanji.
Mehrere grosse Klubs wie Paris Saint-Germain oder Rekordmeister Olympique Lyon liebäugeln bereits mit Reutelers Engagement. Und sie wäre bereit für eine neue Herausforderung. «Es wäre mein Traum, irgendwann in der englischen Liga zu spielen. Und einen Titel zu gewinnen. Sei es der Meistertitel, einen Cup oder eine Europameisterschaft.» Sie überlegt kurz. Und sagt dann augenzwinkernd: «Oder natürlich eine Weltmeisterschaft.» 2027 wird diese in Brasilien stattfinden. Die historische Schweizer EM ist jetzt erst mal vorbei. Doch etwas bleibt: Der Frauenfussball ist angekommen – und mit ihm ein neuer Superstar. Auch wenn Géry das selbst nie von sich sagen würde.