Afghanische Stürmerin erzählt
«Sie erschiessen dich, wenn du als Frau Fussball spielst»

Manozh Noori hat sich in Kabul einst als Knabe verkleidet, um Fussball spielen zu können. Als die Taliban die Macht übernahmen, wollte sie sterben. Sie sieht ihre Tore auch als Zeichen im Kampf für die unterdrückten Frauen in Afghanistan.
Publiziert: 20:15 Uhr
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Aktualisiert: vor 9 Minuten
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Darum gehts

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Florian RazReporter Fussball

Erst ist da nur ihre hochgereckte Faust. Dann folgen die Fäuste ihrer Mitspielerinnen. Manozh Noori (22) hat sich ganz genau überlegt, was sie in dem Moment tun wird, in dem sie ein Tor schiesst. Die Stürmerin des afghanischen Nationalteams will ein Zeichen setzen, das weit über diesen Fussballplatz in Marokko hinaus hallt, auf dem sie soeben einen Penalty verwandelt hat: «Wir afghanischen Frauen sind stark. Niemand kann uns stoppen. Wir studieren, wenn wir wollen. Und wir spielen Fussball, wenn wir wollen. Wir wollen Freiheit!»

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«Wir afghanischen Frauen sind stark. Niemand kann uns stoppen.» Manozh Noori bejubelt mit gereckter Faust ihr Tor gegen den Tschad.
Foto: FIFA via Getty Images

Vier Jahre lang haben die afghanischen Frauen kein Spiel mehr bestritten. Seit die Taliban in ihrer Heimat die Macht übernommen und den Frauen die Selbstbestimmung verboten haben. Ende Oktober dürfen die Afghaninnen wenigstens an einem von der Fifa organisierten Mini-Turnier mitmachen. Noori sitzt im Teamhotel in Marokko, als sie Blick ihr Leben erzählt. Es ist eine Geschichte von Hoffnung, Verzweiflung, Mut – und von einem unbändigen Willen, selbst über das eigene Schicksal entscheiden zu wollen.

«Ich habe mich als Knabe verkleidet, um Fussball zu spielen»

«Als Kind habe ich die Knaben in unserem Quartier auf der Strasse Fussball spielen gesehen. Also habe ich mich als Junge verkleidet, um mitspielen zu können. Als Mädchen hätte ich damals in Kabul niemals mitmachen dürfen. Aber verkleidet habe ich jahrelang mitgespielt. Sogar meine Haare habe ich kurz geschnitten, damit ich nicht auffalle.

Ich bin allerdings in einer sehr konservativen Familie aufgewachsen. Mein Vater ist gestorben, als ich etwa zehn oder elf Jahre alt war. Danach haben meine Brüder die Vaterrolle übernommen. Sie haben uns finanziell unterstützt, weil meine Mutter und meine Schwester nicht gearbeitet haben.

Afghanistans Nationalteam spielt im Oktober 2010 ein Freundschaftsspiel gegen eine Mannschaft der von der Nato geführten Unterstützungstruppen. Afghanistan gewinnt 1:0.
Foto: Getty Images

Ich habe immer Cristiano Ronaldo im TV zugeschaut. Für mich war klar: Ich will Fussballerin werden. Als ich das aber gesagt habe, hat mich meine Familie schräg angeschaut. ‹Nein, Mädchen studieren, um Lehrerin oder Ärztin zu werden›, haben meine Brüder erklärt. Verstanden habe ich das nicht. Aber sie haben es nicht erklärt, sondern einfach gesagt: ‹Du bist ein Mädchen, du bist Muslima. Also kannst du nicht Fussballerin werden.›

Spielte in der Schule Basketball

Als Teenager konnte ich dann nicht mehr mit den Jungs auf der Strasse kicken. Aber in der Schule habe ich mit Basketball angefangen. Ich war gut, ich hätte an ein internationales Turnier gehen dürfen. Aber ich hatte zu Hause nicht erzählt, dass ich Basketball spiele, also konnte ich doch nicht mitreisen.

Sowieso wollte ich noch immer vor allem eines: Fussball spielen. Im Fernsehen hatte ich gesehen, dass es tatsächlich ein afghanisches Frauen-Nationalteam gab. Und auf Facebook bin ich auf einen Kabuler Fussballklub gestossen, die Tawana Ladies. Es war nicht einfach, ins Probetraining zu kommen, weil mir das Geld fehlte. Aber irgendwie hat meine Mutter das Geld für mich zusammenbekommen.

Der erste Final der afghanischen Frauen-Liga im Jahr 2014. Sieben Jahre später machten die Taliban dem Frauenfussball im Land den Garaus.
Foto: AFP

Ich war so aufgeregt vor meinem Probetraining. Das waren keine Buben in Strassenkleidung. Das waren alles Mädchen im Sportdress. Ich war einerseits sehr nervös – andererseits war es so schön, all diese Mädchen spielen zu sehen. Irgendwann ging es nur noch um den Ball – und mit dem war ich gut. Ich wurde aufgenommen.

Danach haben mich meine Mutter und meine Schwester immer gedeckt, wenn ich mal wieder nicht zu Hause war. Sie sagten, ich sei bei einer Cousine oder in der Schule, wenn ich in Wirklichkeit auf dem Fussballplatz war. Der Rest meiner Familie wusste nicht, dass ich Fussball spiele. Aber ich habe viele Tore geschossen, Spiele gewonnen, und ich konnte zu anderen, grösseren Teams im Kabul wechseln.

Gesichtsmaske, um unerkannt zu bleiben

Damit mich niemand erkennt, habe ich immer mit einer Gesichtsmaske gespielt. Aber es kam der Moment, an dem wir im Final der Kabuler Meisterschaft standen. Ich war Captain – und die Medien wollten, dass ich etwas sage. Also habe ich die Maske abgenommen und bin vor die TV-Kamera gestanden. Ich habe gesagt, dass wir siegen werden. Das Spiel haben wir danach leider verloren. Aber an diesem Tag habe ich meine Freiheit gewonnen.

Die verbotene Nationalmannschaft

Seit der Machtübernahme der Taliban im August 2021 hat Afghanistan kein Frauen-Nationalteam mehr. Die Taliban erschweren oder verwehren Frauen nicht nur den Zugang zu Jobs, zur Gesundheitsversorgung und zur Ausbildung, sondern auch zum Sport. Der Weltfussballverband Fifa hat 2021 mitgeholfen, afghanische Fussballerinnen aus dem Land zu fliegen. Und er unterstützt Bemühungen, Frauen in Afghanistan wieder Zugang zu sportlichen Aktivitäten zu ermöglichen.

Die Fifa stellt sich aber auch auf den Standpunkt, dass es am nationalen Verband Afghanistans liegt, ein offizielles Nationalteam der Frauen zu melden. Was unter einem Taliban-Regime natürlich kaum geschehen wird. Die Fifa wurde wegen dieser Haltung unter anderem von Khalida Popal (38) harsch kritisiert. Das Gründungsmitglied des afghanischen Nationalteams lebt heute in Dänemark.

Als Kompromiss hat die Fifa nun ein afghanisches Flüchtlingsteam unter dem Namen Afghan Women United gegründet. Dieses hat im Oktober an einem von der Fifa eigens organisierten Turnier gegen den Tschad (1:6), Tunesien (0:4) und Libyen (7:0) gespielt.

Von offiziellen Länderspielen und damit auch von der Qualifikation für grosse Turniere sind die Afghaninnen weiterhin ausgeschlossen. Trotzdem erklärte Fifa-Präsident Gianni Infantino (55) vor dem zweiten Spiel der Afghaninnen: «Dies ist der Beginn einer wunderbaren Geschichte.» Popal danke der Fifa dafür, «dass sie in uns investiert und an uns glaubt».

Wie hoch politisch das afghanische Frauen-Team ist, zeigt der Austragungsort des Mini-Turniers. Dieses hätte ursprünglich in den Vereinigten Arabischen Emiraten stattfinden sollen. Erst kurz vor ihrem Abflug erfuhren die Afghaninnen, dass ihre Flüge in die Emirate abgesagt worden waren. Die Emirate hatten ihnen keine Visa ausgestellt. In letzter Sekunde sprang darum Marokko als Veranstalter ein.

Khalida Popal ist Mitbegründerin des afghanischen Frauen-Nationalteams. Sie flüchtete nach mehreren Morddrohungen 2012 nach Dänemark und engagiert sich stark für den Frauenfussball in Afghanistan.

Seit der Machtübernahme der Taliban im August 2021 hat Afghanistan kein Frauen-Nationalteam mehr. Die Taliban erschweren oder verwehren Frauen nicht nur den Zugang zu Jobs, zur Gesundheitsversorgung und zur Ausbildung, sondern auch zum Sport. Der Weltfussballverband Fifa hat 2021 mitgeholfen, afghanische Fussballerinnen aus dem Land zu fliegen. Und er unterstützt Bemühungen, Frauen in Afghanistan wieder Zugang zu sportlichen Aktivitäten zu ermöglichen.

Die Fifa stellt sich aber auch auf den Standpunkt, dass es am nationalen Verband Afghanistans liegt, ein offizielles Nationalteam der Frauen zu melden. Was unter einem Taliban-Regime natürlich kaum geschehen wird. Die Fifa wurde wegen dieser Haltung unter anderem von Khalida Popal (38) harsch kritisiert. Das Gründungsmitglied des afghanischen Nationalteams lebt heute in Dänemark.

Als Kompromiss hat die Fifa nun ein afghanisches Flüchtlingsteam unter dem Namen Afghan Women United gegründet. Dieses hat im Oktober an einem von der Fifa eigens organisierten Turnier gegen den Tschad (1:6), Tunesien (0:4) und Libyen (7:0) gespielt.

Von offiziellen Länderspielen und damit auch von der Qualifikation für grosse Turniere sind die Afghaninnen weiterhin ausgeschlossen. Trotzdem erklärte Fifa-Präsident Gianni Infantino (55) vor dem zweiten Spiel der Afghaninnen: «Dies ist der Beginn einer wunderbaren Geschichte.» Popal danke der Fifa dafür, «dass sie in uns investiert und an uns glaubt».

Wie hoch politisch das afghanische Frauen-Team ist, zeigt der Austragungsort des Mini-Turniers. Dieses hätte ursprünglich in den Vereinigten Arabischen Emiraten stattfinden sollen. Erst kurz vor ihrem Abflug erfuhren die Afghaninnen, dass ihre Flüge in die Emirate abgesagt worden waren. Die Emirate hatten ihnen keine Visa ausgestellt. In letzter Sekunde sprang darum Marokko als Veranstalter ein.

Als ich nach Hause kam, waren meine Mutter und meine Schwester sehr stolz auf mich. Doch gegen Abend kam einer meiner Brüder nach Hause. Er hatte mich im Fernsehen gesehen und war sehr wütend. Er schimpfte mich ein schlechtes muslimisches Mädchen, und er schlug mich ins Gesicht.

Er wurde immer aggressiver, da hat sich meine Mutter zwischen uns gestellt. Danach hat er uns komplett aus seinem Leben gestrichen und uns nicht mehr finanziell unterstützt. Zum Glück lebte einer meiner Brüder da schon in Deutschland. Er hat uns Geld geschickt, um unser Leben zu finanzieren.

Als es 2021 hiess, dass die Taliban zurückkehren könnten, glaubte ich das nicht. Es gab doch so viel Militär in Kabul. Aber dann erhielt ich auf dem Weg ins Training einen Anruf meines Trainers: ‹Manozh, die Taliban sind da. Du musst sofort nach Hause. Wenn sie herausfinden, dass du als Frau Fussball spielst, werden sie dich erschiessen.›

Ein Jahr nach der Rückkehr der Taliban im Jahr 2021 posieren Fussballerinnen in Kabul für den Fotografen der Agentur AP. Sie tragen die Burka aus Angst, von den Taliban für ihren Sport bestraft zu werden.
Foto: keystone-sda.ch

Zu Hause erklärte meine Mutter, wir müssten uns jetzt den Taliban fügen: ‹Das ist die Realität, wir müssen es akzeptieren.› Aber ich habe mich in meinem Zimmer verkrochen. Ich wollte sterben. Lieber tot sein, als ein Leben unter den Taliban zu führen.

Also habe ich Khalida Popal geschrieben. Sie war einst Captain des Nationalteams und arbeitet heute als Menschenrechts-Aktivistin. Sie hat mir gesagt, ich solle eine Whatsapp-Gruppe mit allen Mitspielerinnen gründen, sie werde versuchen, uns Visa für Grossbritannien zu organisieren.

Pokale und Medaillen vergraben

Alles ging sehr schnell. Khalida sagte uns, wir sollten bloss eine Flasche Wasser und ein Stück Brot mit zum Flughafen mitnehmen. Alle meine Medaillen und Pokale, für die ich so hart gearbeitet habe, habe ich vergraben.

Dann bin ich mit Mutter und Schwester zum Flughafen. Aber dort waren so viele Menschen, ich habe sie im Chaos verloren, und mein Handy hatte irgendwann keinen Strom mehr. Aber ich habe meine Teamkameradinnen gefunden. Zusammen sind wir mit einem Armeeflugzeug nach Dubai ausgeflogen worden. Als es danach weiterging, wusste ich gar nicht, wohin. Erst im Hotel, in dem wir untergebracht wurden, haben wir es erfahren: Wir waren in Melbourne gelandet, in Australien.

Meine Schwester und meine Mutter waren in der Zwischenzeit wieder nach Hause gegangen. Ich habe viel geweint, weil ich dachte, es sei mein Fehler gewesen, dass wir uns verloren haben. Aber 2023 konnten sie zu mir nachziehen. So habe ich jetzt meine Familie bei mir in Australien.

Unser Nationalteam durfte seit der Machtübernahme der Taliban nicht mehr spielen. Vier Jahre sind für uns eine lange Zeit. Wir sehen, dass die Spieler des Männer-Teams wie wir in der ganzen Welt verstreut leben. Trotzdem dürfen sie für Afghanistan antreten. Wir aber dürfen unser Land nicht repräsentieren, weil die Taliban uns Frauen alles verbieten? Ich hoffe, dass die Fifa weiter daran arbeitet, dass wir eines Tages wieder in der Qualifikation für grosse Turniere mitspielen dürfen. Und warum nicht eines Tages auch am Asien-Cup oder an der Weltmeisterschaft?

Jubel bei den Afghaninnen nach dem Sieg über Libyen – und nach vier Jahren, in denen das afghanische Nationalteam keine Spiele bestreiten durfte.
Foto: EPA

Viel Traurigkeit in Afghanistan

Trotzdem glaube ich, dass diese Spiele mit Afghan Women United ein Anfang sind. Es ist ein Zeichen, dass es uns noch gibt, dass wir noch leben. Wir zeigen den Taliban, dass wir kämpfen. In Afghanistan herrscht so viel Traurigkeit. Da sind unsere Spiele ein Zeichen der Hoffnung. Nach meinem Tor gegen den Tschad habe ich so viele positive Nachrichten auf den sozialen Medien erhalten, dass ich richtig überwältigt war. Die afghanischen Menschen freuen sich mit uns – auch Männer.

Ich habe noch immer Angehörige und Freunde in Afghanistan. Die Lage ist prekär, vor allem für Frauen, die keine Rechte haben. Wenn ich mit ihnen Kontakt habe, versuche ich, ihnen Mut zu machen. Das Leben hält nicht nur eine Tür bereit, es gibt viele verschiedene Türen, solange man an sich glaubt. Ich hoffe, dass die Frauen in Afghanistan eines Tages frei sein können und nicht mehr unter der Kontrolle von Taliban oder anderen Männern leben müssen.

Mein Bruder, der noch immer in Afghanistan lebt, will noch immer nicht mit mir reden, weil ich Fussball spiele. Aber das ist okay. Vielleicht begreift er es eines Tages und ist stolz auf mich. Vielleicht ist er schon jetzt stolz, aber er kann es nicht zeigen, weil er sich noch nicht öffnen kann. Aber wenn du Afghanistan einmal verlassen hast, stellst du fest, wie gross das Leben wirklich sein kann.»

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