Es ist ruhig geworden an diesem Sonntag auf der Piazza Giovanni Battista Cima im Herzen von Conegliano. Am Nachmittag tummelten sich Hunderte Kinder – Spieltag. Mittlerweile ist später Abend. Am Sonntag wird in Italien ausgiebig zu Mittag gegessen, weit in den Nachmittag hinein. Am Abend ist man daheim.
Einer nicht. Gianni De Biasi ist auf dem Weg zurück aus Rom, wo er Gast war bei «RAI Sport» in der Sendung «Novanta minuti». Spontan sagt der «Mister» der Albaner: «Seid ihr um Mitternacht noch auf den Beinen? Ich lande um elf in Venedig und bin um kurz vor Mitternacht in Conegliano.» Und so gibts auf besagter Piazza noch ein Gläschen des hiesigen Nationalgetränks: Prosecco. Conegliano, De Biasis Heimatstadt, ist neben Valdobbiadene die zweite Hochburg des bei uns so populären Schaumweins aus dem Veneto. Der Coach sagt: «Der Prosecco ist unser Gold!»
Diese Episode ist typisch für De Biasi. Unkompliziert, hoch anständig, problemlos erreichbar, jovial – und mit einer gesunden Portion Schlitzohrigkeit ausgestattet. Die es braucht, um in diesem Business zu bestehen. Erst recht, um dies in Albanienzu schaffen.
De Biasi ist nicht sehr oft in seiner Heimat anzutreffen. Er ist als Coach unseres ersten EM-Gegners zu einem Reisenden geworden. Zwischen Conegliano, Tirana und den vielen Destinationen, in welchen seine Nationalspieler unter Vertrag stehen. Eine ganz wichtige unter ihnen: die Schweiz.
«Ich hatte die Nase voll von der Hire-and-Fire-Politik in der Serie A»
De Biasi und Albanien – das ist eine echte Lovestory geworden. Allerdings ohne Liebe auf den
ersten Blick. «Ich habe zuerst einmal Nein gesagt, als mich der Verband anfragte. Doch die liessen nicht locker, bis ich Ja sagte.» Mit ein Grund für sein Zögern, gleich nach seinem Rausschmiss bei Udinese wieder ein Angebot im Fussball anzunehmen, seien Ressentiments gegenüber dem italienischen Fussball gewesen. «Ich hatte die Nase gestrichen voll von dieser Hire-and-Fire-Politik in der Serie A», erzählt De Biasi. Seine letzte Destination war
Udinese. Im Dezember 2009 angeheuert. Im Februar 2010 gefeuert. Da haute es dem belesenen Mister den Nuggi raus!
In Albanien ist er mittlerweile ein Staatsheld. Noch vor der EM-Qualifikation von Albanien haben sie ihm die albanische Staatsbürgerschaft verliehen. Im März 2015. Ehrenhalber für sportliche Verdienste. «Für die bin ich Gott», sagt er – und wirft sein schelmisches Lächeln hinterher.
Der Respekt sei gewaltig. «Wenn ich in Tirana durch die Strassen gehe, sind die Leute erst mal überrascht. Denn das gab es zu Zeiten der Diktatur nicht, dass Personen des öffentlichen
Lebens auch in Fleisch und Blut an diesem teilnahmen. Die sah man damals nur im TV. Einmal diesen Schock überwunden, legen sie die Hand aufs Herz – und sagen: ‹Respekt!›» In Conegliano macht das niemand. Da ist Giovanni De Biasi schlicht der Gianni. Einer von nebenan. Einer, der an diesem Montag Hunger hat und sich, wie alle Italiener, schon früh damit beschäftigt, wo man zu Mittag essen gehen könnte.
De Biasi macht ein paar Telefonate. Doch er hat Pech. All seine Lieblingsrestaurants haben Ruhetag. Bei seinem absoluten Favoriten fährt er dennoch hin. Er will uns zeigen, wo das albanische Qualifikationswunder seinen Ursprung hat. «Hier, in der ‹Antica Osteria di Via Brandini› haben wir vor dem Match gegen Dänemark gegessen», erzählt De Biasi. Stolz führt er uns durch das urige Lokal. Eine typische Osteria ausserhalb der Ballungszentren.
«Kannst du nicht doch was kochen, Giovanni?», nimmt De Biasi einen letzten Anlauf. Der Wirt bleibt hart: «Nein, scusi. Nichts zu machen. Montag ist Einkaufstag. Ich habe gar nicht alles im Haus, was ich brauche», sagt Giovanni Perenzin. De Biasi steigt ins Auto und ruft ihm zu: «Also, bis zum nächsten Mal. Im Jahr 2044!»
Nur ein paar Fahrminuten weiter steht das Hotel Ca’ del Poggio. «Das ist der Ort, an welchem grosse Sporterfolge gefeiert werden», sagt De Biasi, als er den Boss begrüsst. Dieser ist zu einem Albanien-Fan geworden, seit die Mannschaft vor dem Dänemark-Spiel hier residiert hat. Von De Biasi muss man hier ohnehin niemanden überzeugen.
«Habt ihr ihn gesehen bei ‹Novanta minuti›?», fragt er – rhetorisch. «Er war fantastisch! Besser als alle anderen. Ich schaue mir sonst nie die ganze Sendung an. Mit ihm war es jede Minute wert.» Auch diesen Rundgang führt der Mister durch. «Das Haus ist fantastisch! Und dann diese Aussicht. Und in meiner Suite steht sogar ein Whirlpool», sagt er lachend. «Das beste Haus in der Gegend!»
Einzig die Suche nach dem richtigen Restaurant bereitet De Biasi Bauchschmerzen. «Sch...montag», sagt er. Doch gegessen wird noch nicht. Zuerst gehts zum Kastell, welches das Städtchen überragt. De Biasi gerät ins Schwärmen: «Die Region ist zu schön, um wahr zu sein! Schaut euch diese Hügel an! Es gibt auch in anderen Regionen schöne Hügelzüge. Aber das ist meine Heimat. Meine Hügel. Da hat man ganz andere Emotionen.»
Die Region macht uns einen unglaublich sauberen, geordneten, ja schweizerischen Eindruck. «So sind wir», bestätigt De Biasi. «Sehr schweizerisch. Der Job kommt vor allem anderen. Auch ich bin so. So haben mich meine Eltern und Grosseltern erzogen.»
Fussball oder Bank? Fussball!
Doch selbst diese schweizerische Mentalität konnte nicht verhindern, dass auch die Prosecco-Region unter der Wirtschaftskrise zu leiden hatte. «Bis vor zehn Jahren ging es uns glänzend. Jetzt haben auch wir zu beissen.»
In Anbetracht von De Biasis
Kinderstube erstaunt es auch nicht, dass er nach Abschluss seiner Spielerkarriere zuerst mal «nur» Juniorentrainer wurde, weil er das Diplom zum «Promotore
finanziario», zum Finanzberater, erwerben wollte. Das war auf der Banco San Paolo di Torino in
Conegliano. «Bis mir die Bank
eines Tages eröffnete: Fussball oder der Job bei uns. Da entschied ich mich für den Fussball.»
Zeit für einen Apéro. «Das machen wir doch gleich auf einem Weingut», schlägt De Biasi vor.
Da degustieren wir uns durch das Prosecco-Sortiment, was De Biasi durchaus fachmännisch macht. «Ich habe einen Kurs gemacht, um präziser sein zu können bei der Beschreibung und Beurteilung von Weinen», erklärt der Fussballtrainer.
Camp bei Asterix und Obelix
Wie das so üblich ist, hat man da keine heuchlerischen Berührungsängste, die beiden Themen Sport und Wein in Verbindung zu bringen. Schliesslich ist auch Neo-Bayern-Trainer Carlo Ancelotti Botschafter für einen italienischen Wein.
Bei De Biasis zu Hause. Keine mondäne Villa. Ein unscheinbares Einfamilienhaus, wie es viele andere gibt in der Stadt. De Biasis Frau Paola begrüsst uns überschwänglich, zeigt uns gleich die Wohnung. Im Arbeitszimmer steht ein grosser Flachbildschirm. Das wichtigste
Arbeitsgerät eines Coaches.
Doch De Biasis Haus hat eine weit wichtigere Funktion: Es ist Giannis Rückzugsort. Hier findet er die Ruhe zur Ausbrütung der Pläne, wie die Schweiz zu schlagen ist. Ausser Paola stört die Ruhe. De Biasi grinst: «Ich bin der Chef! Wenn meine Frau nicht zu Hause ist.»
Heute geniesst De Biasi den zweiten von zwei freien Tagen,
bevor es ernst gilt mit der letzten Vorbereitungswoche vor dem ersten EM-Spiel gegen die Schweiz. Die Albaner haben sich für die
Bretagne als Region für ihr Basecamp entschieden. Eine eher schroffe Region, in welcher nicht primär Ferienstimmung aufkommen, sondern hart gearbeitet werden soll. «Da kommen Asterix und Obelix her», sagt De Biasi – und grinst. Die könnten kämpfen wie Löwen. Seine Doppeladler sollen es ihnen in Frankreich gleichtun.
PS. Gianni De Biasi ist an diesem Montag dem Hungertod doch entronnen. Mitten im Zentrum
von Conegliano fand sich doch noch ein am Montag geöffnetes und ihm genehmes Lokal.