Vor kurzem erschien Tysons Biographie, eine schonungslose Beichte über seine Verfehlungen und Sünden. Ein gescheitertes Leben. Doch damals, 1986, erschien er wie eine Figur von einem anderen Stern. Ein Schwarzer, der sich alles holen will, was dieser Planet der Weissen zu bieten hat. Jetzt und sofort. Einer, der bereit ist, dafür über Leichen zu gehen. Mike Tyson lag die ganze Welt vor den Fäusten.
9000 Zuschauer sind nach Las Vegas gekommen. Gespannt, den jungen Burschen zu sehen, der bereits eine Legende ist, noch ohne einen Titel im Sack zu haben. Man erzählt sich Wunderdinge. 27 Kämpfe als Profi hat er bereits hinter sich, alle gewonnen, 25 durch K.o., 15 in der ersten Runde, die Mehrzahl davon nach wenigen Sekunden. Sein Körper? Muskulös, brutal kompakt. Sein Haarschnitt? Rabiat kurz. Sein Gesichtsausdruck? Bereit, alles zu vernichten. Sein Halsumfang? Unfassbare 48 Zentimeter.
Bei Tysons Einmarsch vibriert die Luft. Die Menschen sind so fasziniert von dieser Erscheinung, die ihnen ein blutiges Spektakel verspricht, dass sie den amtierenden Weltmeister Trevor Berbick kaum beachten. Berbick, der Champion, 12 Jahre älter, acht Zentimeter grösser, zwei Kilo leichter als Tyson, ausgestattet mit stolzen 19 Zentimetern Reichweitenvorteil. Die Wetten aber stehen 1:3 gegen ihn, gegen den Weltmeister, der erste Wirkungstreffer.
Ein Kuss von Tysons Trainer auf die Wange seines Wunderkinds, dann der Gong… dieser 20-Jährige, als wäre er endlich von der Kette gelassen, stürzt sich wie eine Furie auf den Gegner. Und deckt ihn zu mit Schlägen, darunter nie zuvor gesehene Kombinationen. Harte Schläge. Tödliche Waffen. Die Zuschauer raunen, Berbick ist geschockt, verliert seine Selbstsicherheit augenblicklich. Kann sich kurz vor Schluss der ersten Runde gerade noch auf den Beinen halten. In seinen Augen spiegelt sich die Angst.
Der Beginn der zweiten Runde. Tyson trifft mit rechts, brutal, mehrmals. Berbick torkelt, fällt zu Boden, rappelt sich tapfer hoch. Wäre er doch liegengeblieben. Weitere Schläge, kein Entkommen. Schliesslich die fatale Linke an Berbicks rechte Schläfe, das finale Drama, das Ende eines Champions. Berbick fällt, zappelt sich hoch, fällt wieder, diesmal nach links in die Seile, rappelt sich auf, eine reine Willensleistung, fällt nach rechts auf den Boden, rappelt sich nochmals auf. Jetzt sind es nur noch Reflexe, Impulse im Überlebenskampf. Berbick hat keine Kontrolle mehr. Die blutrünstige Menge brüllt. Der Ringrichter nimmt den Geschlagenen in die Arme, bricht den Kampf ab.
«Ich bin Weltmeister im Schwergewicht», sagt Tyson in die TV-Kamera. Jetzt wirkt er völlig entspannt, überreif für sein Alter. Das Ende von Alis Schatten ist erreicht. Der Boxsport hat ein neues Phänomen. Und einen Rekordmann für die Ewigkeit. Mike Tyson, 20 Jahre und 144 Tage jung. Der 22. November 1986. Die Nacht, als die Erde bebte.